Tim Cole
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Vorwort
Die Geschichte des deutschen Unternehmertums wurde von starken Unternehmerpersönlichkeiten geschrieben: Männer und Frauen mit Ideen und Visionen, mit dem Mut zur Innovation und dem Geschäftssinn, das Beste daraus zu machen. Sie waren Einzelgänger, die unbeirrbar ihren Weg gingen und am Ende viel Erfolg hatten. Sie sind bis heute Vorbilder geblieben.
Doch die Zeiten ändern sich. Ein Robert Bosch oder Karl Benz, ein Max Grundig oder Hermann Bahlsen, eine Margarethe Steiff oder eine Caroline Märklin hätten heute vermutlich mit einem kleinen Laden kaum noch eine Chance, auf eigene Faust zum Erfolg zu kommen. Sie wären heute wahrscheinlich die ersten, die Internet, moderne Kommunikation und Netzwerkeffekte für sich nutzen würden. Denn das zeichnet inzwischen den weitsichtigen Unternehmer aus: Er lässt den Wandel für sich arbeiten.
Solche Weitsicht ist heute mehr gefragt denn je. Der deutsche Mittelstand, die tragende Säule der deutschen Volkswirtschaft, droht eine der wichtigsten Weichenstellungen der Neuzeit zu verpassen: Der Übergang von einer analogen zur digitalen Wirtschaft - einer Wirtschaft, in der es weniger auf unterneh-merische Einzelleistung und mehr auf Vernetzung, auf Kommunikation und Kollaboration ankommt. Darauf sind die meisten Unternehmer und Manager in Deutschland auch heute noch, mehr als zehn Jahre nach dem Beginn der Internet-Revolution, noch nicht ausreichend gerüstet.
Wie soll es aber weitergehen? Wie sehen Unterneh-men im Jahr 2020 aus, also wenn das kommende nächste Jahrzehnt der digitalen Wirtschaft vorüber ist? Wie wird der Standort Deutschland, der ein zutiefst mittelständischer ist, im internationalen Vergleich dastehen? Das sind Fragen, die nicht nur für die Un-ternehmen, sondern für alle Menschen in diesem Land von größter Tragweite sind. Der Konkurrent von morgen hat seinen Betrieb nicht in Wanne-Eickel oder Rosenheim, sondern in Hyderabad oder Fujian. Denn auch der deutsche Mittelstand muss auf der Globalisierungswelle mitschwimmen - oder unterge-hen.
Auch wenn Ausnahmen die Regel bestätigen, so muss man leider feststellen, dass die Mehrzahl der mittelständische Unternehmen die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht ausreichend nutzen, um ihr Geschäft voranzutreiben und ihre Zukunft zu sichern. Gleichgültig ob Produktionsbetriebe, Handels- oder Dienstleistungsunternehmen: Die meisten setzen In-formationstechnologie und Vernetzung längst nicht offensiv genug ein. Natürlich stehen überall in den Büros, in Lagerhäusern und Fabriken PCs, natürlich verfügen auch kleine und mittlere Unternehmen über Server und Datennetze zur Informationsübermittlung und -verarbeitung. Sie beschränken sich aber weitgehend auf die Automatisierung klassischer Ab-läufe und Verwaltungsprozesse, zum Beispiel im Rechnungswesen, in der Warenwirtschaft, in der Produktionssteuerung oder in Konstruktion und Planung.
Es stimmt zwar, dass viele Unternehmen in den letzten Jahren auch erste, meist zaghafte Schritte Richtung eBusiness unternommen oder mit Hilfe mehr oder weniger funktionsfähiger Webshops den Einstieg in den eCommerce gewagt haben, manchmal sogar mit einer Anbindung an bestehende Warenwirtschaftssysteme. Insgesamt aber bleiben Digitalisierung und Vernetzung in den meisten mittelständischen Unternehmen Stückwerk - digitale Inseln inmitten analoger, arbeitsintensiver und deshalb heute schon inneffizienter Geschäftsprozesse. Und dabei stehen wir mit der Digitalisierung ja eigentlich erst am Anfang!
Im Unternehmen 2020 wird es Brücken geben müssen, um die verschiedenen digitalen Inseln miteinander zu verbinden. Das ist leichter gesagt als getan. Bislang mussten die schmalen Brücken, die es bereits gibt, mühsam über technisch teilweise hochkomplexe Schnittstellen hergestellt werden. Nun weiß aber jeder Informationstechniker, wie schwierig es ist, Eingriffe in laufende Systeme vorzunehmen. "Never change a running system!", lautet denn auch das erste Gebot aller IT. Jede kleinste Veränderungen wirkt sich auf andere Systeme aus, wenn also ein Glied in der Kette verändert wird, müssen alle anderen angepasst und ebenfalls verändert werden. So viel zum Thema Flexibilisierung in der IT. In der Praxis ist es häufig aufwändiger, eine neue Software mit den bestehenden Systemen zu integrieren, als die ursprünglich anvisierte Prozessunterstützung zu entwickeln. Wenigstens ist in der IT-Branche selbst langsam ein Umdenken zu erkennen, mit einer neuen Hinwendung zur Modularisierung und Wiederverwendbarkeit von System- und Softwareeinheiten. Dazu später mehr.
Doch die Technik ist nicht das Problem. Die wahren Defizite liegen im vernetzten Denken. Sie stellen die eigentliche Ursache für den zögerlichen Einsatz von Informationstechnologie und Internet in mittelständischen (und übrigens auch in vielen großen) Unternehmen dar. In diesem Buch wollen wir die These wagen, dass mit intensiverer Nutzung heutiger Technologien eine viel stärkere Verzahnung aller Geschäftsprozesse in einem Unternehmen und zwischen verschiedenen Unternehmen möglich wäre, wenn Unternehmer und Manager ihre Fähigkeit, vernetzt zu denken, entwickeln und verbessern würden.
Was ist damit gemeint?
In der westlichen Kultur steht seit altersher der Ein-zelne im Mittelpunkt. Individualismus und Eigenständigkeit (die oft nur eine nette Umschreibung für Selbstsucht sind) ist tief in unseren Traditionen und im unternehmerischen Selbstverständnis gerade des Mittelstandes verwurzelt. Ich bin mir selbst der Nächste, dann kommt lange nichts, dann mein Partner oder Partnerin, meine Kinder, meine Familie, meine Freunde, meine Bekannten, mein Verein - kurz: mein ganz persönliches Beziehungsnetzwerk. Zumindest jene Menschen, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren und engagiert sind, zählen vielleicht noch ihre Kollegen, zumindest ihre engste Arbeitsgruppe dazu: die Abteilung, der Bereich, bei kleineren Betrieben vielleicht sogar das ganze Unternehmen. Das ist im Prinzip gemeint, wenn wir von "ich", "wir" oder "uns" sprechen. Der Rest sind eben die "anderen". Aus dieser absolut egozentrischen Perspektive sind die anderen zunächst einmal unsere Feinde, auf jeden Fall aber Konkurrenten.
Fortschritt geht in dieser Weltsicht stets von "uns" aus. Und wenn doch jemand anderer etwas besser macht, dann stachelt uns das an, diesen Vorsprung aufzuholen und den Konkurrenten möglichst zu überholen - anstatt, was vielleicht sinnvoller wäre, dessen Wissensvorsprung durch Kooperation und intensive Vernetzung zum gemeinsamen Vorteil zu nutzen. Das gleiche gilt natürlich noch umso mehr, wenn wir uns selbst vorne wähnen. Dann suchen wir diesen Vorsprung durch Abschoten und Verheimlichen auszubauen, den Abstand zwischen uns und die - zum Glück - hinterher hinkenden Mitbewerber mit Hilfe von Herrschaftswissen zu vergrößern. Wir verteidigen unseren Vorteil notfalls mit Zähnen und Klauen, so lange es eben geht.
Doch dieses Denken ist längst überholt in einer Welt, in der Vernetzung zumindest im technischen Sinne immer mehr zur Determinante des Fortschritts wird, in der Datenströme unermesslichen Ausmaßes um den Globus kreisen und in der praktisch alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt. Hinzu kommt die wachsende Komplexität der gegenseitigen Beziehungen und Abhängigkeiten, die der Einzelne kaum noch zu überblicken vermag. Hier seien nur auf die ungelösten Menschheitsprobleme wie globale Erwärmung, Trinkwasser- oder Energieversorgung verwiesen. Wer immer noch glaubt, auf eigene Faust einen individuellen Vorsprung verteidigen und daraus Kapital schlagen zu können, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Uns geht es beileibe nicht darum, das Prinzip des freien Wettbewerbs zu verteufeln oder eine fundamentalistische Kapitalismuskritik zu üben. Wir alle sollten uns aber Gedanken darüber machen, wie wir in Zukunft die Grenzen des "Ichs" oder des "Wir" so auszudehnen vermögen, dass wir gemeinsam den größtmöglichen Gewinn daraus erwirtschaften. Wenn es stimmt, dass vier Augen mehr sehen als zwei, zwei kluge Köpfe bessere Ideen ausbrüten als einer, dann wird es höchste Zeit, dass wir diesen Gedanken auch in unsere Unternehmen tragen und ihn dort zu einem zentralen Wirkungsprinzip erklären. Merke: Vernetzung beginnt immer in den Köpfen!
Die Vorbilder von gestern sind ungeeignet, das nötige Bewusstsein für die Bedeutung von Vernetzung im Unternehmen 2020 zu fördern. Die großen Gründerpioniere des 19ten und 20ten Jahrhunderts waren mutige Alleinentscheider. Die neue Generation von erfolgreichen Unternehmern sind Brückenbauer: Menschen, die den Wert von Beziehungsgeflechte kennen und diese zum eigenen und zum gemeinsamen Vorteil zu nutzen verstehen. Die neuen Vorbilder heißen Sergey Brin und Larry Page von Google, Mark Zuckerberg von Facebook, Lars Hin-richs von Xing, Pierre Omidyar von Ebay oder Jeff Bezos von Amazon. Sie werden wir im Jahr 2020 in unseren Jubiläumsreden feiern, über sie werden Wirtschaftsprofessoren vor staunenden Studenten referieren, nach ihnen wird man Straßen und Plätze benennen.
Natürlich gibt es bereits heute gute Beispiele für Firmen, die sich aufgemacht haben, die neue, vernetzte Welt ins Haus zu holen und aus dem erweiterten "wir" Vorteile zu ziehen. Die Hamburger Firma Tchibo ruft auf seiner Website www.tchibo-ideas.de dazu auf, neue Ideen zur Lösung alter Probleme einzureichen. Tchibo Ideas bezeichnet sich als "offene Plattform für Menschen, die neue Ideen entwickeln und diese gemeinsam mit anderen Menschen vorantreiben wollen". Man versteht sich auch als Dialog-Plattform für den regen Austausch zwischen Designern, Erfindern und Entwicklern auf der einen, Kunden und Konsumenten auf der anderen Seite. Alle zusammen bilden die "Tchibo Ideas Community": Eine Gemeinschaft, innerhalb der jeder Einzelne vom Wissen und von der Erfahrung des Anderen profitieren und dadurch die Möglichkeit erhalten soll, seine eigenen Ideen zu optimieren. Dass Tchibo nebenbei eine Flut von wertvollen Anregungen zur Optimierung des eigenen Pro-duktsortiments erhält, wird nur am Rande erwähnt - ist aber aus Sicht des Unternehmens ein ganz handfester Vorteil. Aber nicht der einzige: Wer derart offen mit seinen Kunden umgeht, genießt natürlich einen Vertrauensbonus, kann mit Sympathie und Loyalität rechnen. Das alles ist Teil eines Vorgangs, den wir in diesem Buch als "Kunden-Selbstbindung" bezeichnen werden, und der inzwischen dabei ist, die althergebrachte (und überholte) Vorstellung von "Kundenbindung" abzulösen. Ein gebundener Kunde ist nicht frei in seinen Entscheidungen. Der mündige Konsument des Jahres 2020 wird sich solche Handschellen nicht mehr anziehen lassen. Wer ihn zum Stammkunden machen will, muss in Netzwerken denken können.
Gerade mittelständische Unternehmen werden die Vorteile der Vernetzung in einer globalisierten Welt nutzen müssen, um ihr Überleben langfristig zu sichern. Das erfordert aber eine andere Art der Unternehmensführung, der Arbeitsorganisation, der Produktentwicklung, der Fertigung und des Service. Das heißt nicht mehr und nicht weniger als die Notwendigkeit, das eigene Unternehmen fit zu machen für eine Zukunft, in der Digitalisierung und Vernetzung die treibenden Faktoren der mittelständi-schen Wirtschaft sein werden.
Dieses Buch wagt einen Blick in diese gar nicht allzu ferne Zukunft. Der Titel - "Unternehmen 2020 - das Internet war erst der Anfang" - soll bewusst provozierenden. Hier wird versucht, die sich bereits deutlich abzeichnenden Trends und Entwicklungen vorsichtig fortzuschreiben und damit den Nachweis erbringen, dass in der Vernetzung der Hauptmotor des Fortschritts im kommenden Jahrzehnt liegen wird. Das Buch bringt immer wieder Beispiele von real existierenden Unternehmen, um mögliche Einsatzszenarien hier und heute zu schreiben und damit erreichbare Ziele zu setzen - mutige Macher und Manager, die bereits heute weichen fürs Un-ternehmen 2020 gesetzt haben. Damit lädt es zu einer Reise ein in eine Zukunft, deren Ausgangspunkt der Leser schon kennt: Sein eigenes Unternehmen.
Christoph Witte*, im März 1020
Christoph Witte ist freier Medienberater und Publizist. Er war jahrelang Chefredakteur und Herausgeber der Zeitschrift "ComputerWoche". Witte lebt und arbeitet in München.