Tim Cole
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Kapitel 1: Die vernetzte Wirtschaft
Vinton Cerf ist ein netter, etwas altväterlich aussehender Mann mit einem weißen Spitzbart und schütteren Haaren. Wenn er redet, beschreiben seine Hände bedächtige Gesten, die irgendwie beruhigend wirken. Sein Tonfall ist eher leise, seine Worte gewählt. Alles andere also als ein Revoluzzer. Und doch hat dieser Mann die vielleicht größte Revolution in der modernen Geschichte angezettelt. Wenn einer den Nobelpreis verdient hat, dann er - aber wenn Sie ihm auf der Straße begegnen würden, wüssten Sie vermutlich nicht einmal, wer er ist.
Vinton Cerf hat zusammen mit seinem Kollegen Bob Kahn Anfang der 70er Jahre das TCP/IP-Protokoll erfunden. Bis dahin mussten digitale Daten stets über eine feste Leitungsverbindung zwischen zwei Computern hin und her geschickt werden. Dank TCP/IP werden die Daten für den Transport in kleine Pakete verschnürt. Diese können auf unterschiedlichen Wegen und unabhängig voneinander versendet und vom Empfänger wieder zusammengesetzt werden.
Das Internet hatte gleich zwei Väter
Ein bisschen erinnert das an den berühmten Satz von Neil Armstrong bei der ersten Mondlandung: "Ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer Schritt für die Menschheit." Denn mit den beiden für Laien kaum verständlichen Abkürzungen (sie stehen für "Transmission Control Protocol" und "Internet Protocol") stießen Cerf und Kahn die Tür auf für eine neue Epoche: das Internet-Zeitalter. Und damit hat er alles verändert.
Wie umwälzend die Erfindung der beiden US-Amerikaner gewesen ist, wird immer klarer. Es hat die Art verändert, wie wir kommunizieren, wie wir arbeiten, wie wir uns informieren und wie wir arbeiten. Aber nirgendwo hat sich das Veränderungspotenzial so deutlich gezeigt wie in den großen und kleinen Unternehmen der Wirtschaft.
Für die älteren unter uns genügt es, kurz inne zu halten und sich die Frage zu stellen: "Wie haben wir das eigentlich früher gemacht?" Für die jüngeren hingegen ist es selbstverständlich, dass Briefe und Geschäftsunterlagen mit Lichtgeschwindigkeit um die halbe Welt sausen, dass Bilder und Videos nach wenigen Mausklicks wie selbstverständlich auf dem Computerbildschirm auftauchen, dass Menschen an entgegengesetzten Enden der Erde gemeinsam an Dokumenten arbeiten oder komplizierte Genehmigungsverfahren in Minutenschnelle über Netzwerke laufen, dass Manager in Flughäfen oder in Bahnabteilen ihre Arbeit so erledigen, als seien sie im Büro, oder die gar kein Büro mehr haben, weil das Internet es überflüssig gemacht hat.
Die Veränderungen, die Unternehmen in den letzten zehn bis 15 Jahren umgeformt haben, sind tiefgreifender als alles, was zuvor an Beschleunigung und Vereinfachung auf uns eingeströmt ist, aber wir bemerken es kaum, weil wir so sehr mit dem Augenblick beschäftigt sind. Tatsächlich war es keine Revolution, die das Internet ausgelöst hat, sondern eher eine Evolution, ein langsamer, schrittweiser Wandel, der den privaten und beruflichen Alltag erfasst und verändert hat. Und die Veränderung geht weiter. Was wird zum Beispiel in den nächsten zehn Jahren alles auf uns zukommen? Wie sieht das Unternehmen 2020 aus?
Der Internet-Kühlschrank
Nun, es wird anders aussehen. Das Problem ist nämlich, dass sich die Veränderung nicht aufhalten lässt. Warum das so ist, hat Vinton Cerf dem Schreiber dieser Zeilen vor ein paar Jahren einmal am Rande der CeBIT, der in Hannover stattfindenden größten Technikmesse der Welt, zu erklären versucht, und er hat dazu ein ganz einfaches Beispiel verwendet. "Stell dir einen Kühlschrank mit Internet-Anschluss vor", sagte er, und er beeilte sich zu sagen, dass es solche Kühlschränke natürlich schon längst gibt. Sie werden von Firmen wie LG in Korea oder Samsung in Japan seit Jahren gebaut, und sie verfügen über einen kleinen eingebauten Computer, einen Web-Server und einem Scanner, mit dem er die Barcodes an den Lebensmittelpackungen lesen kann um beispielsweise festzustellen, ob die Milch schon sauer ist. Der Besitzer kann seinen Kühlschrank programmieren und ihm sagen, was er alles gerne vorfinden möchte, wenn er abends heimkommt. Der Kühlschrank kann die gewünschten Dinge per Internet beim Supermarkt um die Ecke bestellen. Und in Ländern, in denen die Servicekultur etwas ausgeprägter ist als hier bei uns, da werden die Waren ins Haus geliefert und sogar, wenn das gewünscht wird, in den Kühlschrank geräumt.
So weit, so gut. Das ist keine Science Fiction, sondern längst Realität, auch wenn die wenigsten unter den geneigten Lesern vermutlich schon einen solchen Kühlschrank in der Küche stehen haben. Aber was wäre, fragte Cerf, wenn es eine Personenwaage mit Internetanschluss gäbe. Vorstellbar wäre sowas ja: Krankhaft übergewichtige Menschen könnten sich morgens drauf stellen, und die Waage würde das Gewicht an den behandelnden Arzt übermitteln, der daraufhin die Medikamentierung entsprechend einstellen oder den Patienten in die Praxis bestellen könnte.
Was aber, wenn der Internet-Kühlschrank auf einmal anfangen würde, mit der Internet-Waage zu kommunizieren? Was käme dabei heraus? Schwer zu sagen. Vielleicht fände der Besitzer abends lauter Diätkost im Kühlschrank vor, oder vielleicht ließe sich die Kühlschranktür eine Zeitlang nicht mehr öffnen, weil die beiden das so beschlossen haben. Sicher ist nur: Es wäre nicht mehr alles so wie früher. "Und warum?", fragte Cerf und lächelte triumphierend. "Weil die Vernetzung automatisch immer auch Veränderung bedeutet. Egal was Sie vernetzen oder wie sie das tun. Es kommt am Ende etwas anderes heraus, etwas Unvorhergesehenes, etwas Überraschendes!"
Wenn man bedenkt, dass wir seit mehr als 20 Jahren dabei sind, die Wirtschaft zu vernetzen, darf es eigentlich niemanden überraschen, wenn dadurch ständig massive Veränderungen in den Unternehmen, in den Behörden, in den Schulen und Wohnzimmern der Welt in ausgelöst werden. Und dennoch schütteln wir manchmal kollektiv den Kopf und fragen uns: "Wie konnte das nur passieren?"
Der Netzwerkeffekt - und die Folgen
Die Antwort lautet: Digitalisierung und Vernetzung. Beide hängen eng miteinander zusammen, beide ergänzen und verstärken sich gegenseitig, beide tragen ein hohes Veränderungspotenzial in sich. Es ist wie Goethes Geister, die er rief, und wird sie nicht mehr los: Es gibt, wenn die Vernetzung erst einmal kritische Masse erreicht hat, kein Zurück mehr.
Seit etwa 20 Jahren ist die technische Vernetzung gelebte Wirklichkeit in Unternehmen und Behörden, in Schulen und Krankenhäusern und vor allem in den Wohnzimmern und sogar in den Schlafzimmern von Millionen von Menschen. Diese Vernetzung hat die Welt bereits so sehr verändert wie kaum eine andere Technik zuvor, und dabei stehen wir eigentlich erst am Anfang. Bis zum Jahr 2020 - und weiter wollen wir als fehlbare Menschen in diesem Buch lieber nicht blicken - ist noch viel gravierenden Veränderungen zu rechnen. Aber es liegt im Wesen dieser durch Vernetzung ausgelösten Veränderung, dass keiner ganz genau sagen kann, wann und wo er stattfinden wird. Woraus wir die erste und wichtigste Regel für Entscheider im Unternehmen 2020 ableiten können: Seien Sie auf der Hut vor Veränderung! Und haben Sie sie erkannt, dann reagieren Sie schnell - wenn möglich schneller als die Konkurrenz.
Es liegt nämlich leider auch im Wesen der Vernetzung, dass sich das Tempo der durch sie ausgelösten Veränderung ständig beschleunigt. Schuld daran ist der so genannte "Netzwerkeffekt". Er besagt, dass der Nutzen an einem Netzwerk für den Einzelnen wächst, wenn dessen Nutzerzahl größer wird. Der erste, der diesen Effekt beschrieben hat, war Theodore Vail, der seit 1878 die von Alexander Graham Bell, dem Erfinder des Telefons, gegründete American Bell Telephone Company leitete. Ihm gelang es 1919, die US-Regierung davon zu überzeugen, dass es sinnlos wäre, mehrere konkurrierende Telefonsysteme im Land zuzulassen, weil dadurch der Nutzen für die Teilnehmer und folglich auch das Interesse der Kapitalanleger gering wäre, in ein solches für das Land so wichtige System zu investieren. Vail nannte sein Konzept "one system, one policy, universal service", und er hat damit eines der größten Monopole der Wirtschaftsgeschichte geschaffen, die American Telephone & Telegraph Company, AT&T. Auch nach der Zerschlagung durch die Kartellbehörde im Jahr 1982 ist AT&T immer noch eines der größten Telekom-Firmen der Welt.
Wissenschaftlich formuliert wurde der Netzwerkeffekt Anfang der 80er durch den Kalifornier John Metcalfe, dem Chef der Firma Ethernet. Sie ging als "Metcalfe's Law" in die Technikgeschichte ein, hat aber weit darüber hinaus Gültigkeit und Bedeutung. In seiner Kurzform lautet das Gesetz: Der Nutzen eines Netzwerke steigt im Quadrat zur angeschlossenen Teilnehmer.
Das Gesetz ist universell, sie gilt aber insbesondere für Unternehmen, in denen die seit Jahren fortschreitende, oft ziemlich willkürliche und vor allem nach wie vor lückenhafte Vernetzung zwar einerseits schon spürbaren Nutzen gestiftet hat, andererseits aber zu einer wirrendende Komplexität von Geschäftsprozessen und Beziehungen, zum Beispiel zwischen Anbieter und Kunden, geführt hat. Wenn heute mancherorts von der "vollständigen Vernetzung der Wirtschaft" gesprochen wird, so bleibt das bis heute leider noch ein ziemlich leeres Versprechen, oder, wie die Angelsachsen sagen würden, "work in progress" - wir arbeiten noch daran…
Das Zeitalter der Digitalen Transformation
Veränderung, die auf Digitalität und Vernetzung basiert, wird von Fachleuten inzwischen häufig als Digitale Transformation bezeichnet. Je nachdem, welche Definition des Begriffs Sie heute hören, werden Ihnen auch verschiedene Stoßrichtungen und verschiedene Endziele dieser Entwicklung begegnen. Dem einen geht es um Verbesserung der Prozesseffizienz, dem anderen um die Senkung von Prozesskosten, der dritte sieht darin die Unterstützung wertschöpfender Unternehmensaktivitäten, wieder ein anderer eher die elektronische Abstimmung und Steuerung von Geschäftsaktivitäten oder die Weiterentwicklung vorhandener Einzellösungen für Unternehmen durch konsequente Vernetzung.
Die Wirtschaftsberater von McKinsey haben Digitale Transformation als ein komplexes, individuelles System zur Schaffung von Transparenz bezeichnet, das die unternehmensspezifischen Schwächen beseitigen beziehungsweise ihre Stärken unterstützen soll, um sie effektiver nutzbar zu machen.
Digitalität und Vernetzung sind wie gesagt die zwei treibenden Kräfte beim aktuellen Wandel in der Unternehmenswelt. Nur ist nicht immer sofort offensichtlich, wo sie stattfindet und wie groß ihre Tragweite sein wird. Die große Herausforderung an Manager in einer digitalisierten Wirtschaft wird darin bestehen, die Veränderung für das Unternehmen, für sein Geschäftsmodell und für sie persönlich zu erkennen und darauf zu reagieren. Wer das am besten und am schnellsten kann, wird zu den Gewinnern zählen. Die Langsamen werden unter die Räder kommen.
Es gibt heute kein Unternehmen, das nicht in irgendeiner Form schon von der Digitalen Transformation erfasst worden ist. Es gibt kaum einen Bäckermeister in Deutschland, der nicht zumindest einen Internetanschluss hat. Über 80 Prozent der mittelständischen Unternehmen sind inzwischen online. Bald werden es alle sein.
Großunternehmen insbesondere haben viel Geld in "Insellösungen" gesteckt - in einen teureren Webauftritt, zum Beispiel, in ein Online-Sjop, ins Intranet, in Customer Relationship Management, in eProcurement oder Demand Chain Management. Die meisten dieser Lösungen sind dezentral entstanden, häufig aufgrund von Eigeninitiative einzelner Abteilungen oder Fachbereiche. Nun stehen Unternehmen häufig vor der schweren Aufgabe, diese Inseln miteinander verbinden zu müssen, damit sie sich endlich rentieren. Hier wird Digitale Transformation zu voll vernetzen System führen, bei denen bereits bestehende Lösungen mit den neuen verzahnt sind, um das Versprechen, das sich aus der Digitalität der Vernetzung ergibt, tatsächlich einlösen zu können.
Es geht darum, die Voraussetzungen zu schaffen, damit Information und Wissen im Unternehmen auch wirklich benutzt werden können. Unsere Systeme sind zwar teilweise schon digital, aber nicht ausreichend vernetzt. Wir können nicht wirklich auf diese Informationen, die heute einen wichtigen Teil unseres Firmenvermögens darstellen, in dem Augenblick zugreifen, wo wir sie eigentlich benötigen, weil immer irgendwo ein Schnittstellenproblem oder ein Kompatibilitätsproblem besteht. So kommt es immer wieder zu Medienbrüchen und Blockaden, die Zeit, Geld und Ärger kosten. Die digitalen Zahnräder greifen nicht ineinander, irgendwo klömmen immer ein paar Bits und Bytes.
Startschuss zur totalen Vernetzung
Der erste Schritt auf dem Weg zur notwendigen Digitalen Transformation der Unternehmen heißt "eEnabling", also das Unternehmen fit machen für die digitale Zukunft. Das ist heute die größte Aufgabe, vor der die Wirtschaft steht. Es beginnt damit, dass Prozessabläufe überhaupt digitalisiert werden müssen. Das ist keine triviale Aufgabe, denn um Prozessabläufe zu digitalisieren, muss man nicht nur etwas von Computern und von Software verstehen, sondern etwas von Prozessen. Gleichzeitig muss man seine Wertschöpfungsketten anzusehen und versuchen, durch Entbündelung und Neugestaltung, durch Outsourcing und Insourcing schlagkräftiger zu werden. Das sind keine typische IT-Aufgaben, sondern eine Aufgabe des Top Management. Digitale Transformation ist Chefsache.
Die drei Ziele von Digitaler Transformation kann man heute relativ gut beschreiben: Prozessoptimierung, Konzentration auf Kernkompetenzen und fokussiertes Wachstum. Bei ersterem steht die operative Verbesserung im Mittelpunkt. Hier geht es um webbasierte Anwendungen, die sich modular erweitern lassen, die nach den Bedürfnissen und Erkenntnissen des Unternehmens wachsen können. So lassen sich schnell operative Verbesserungen erzielen und weitgehende Transparenz schaffen. Das gilt auch bei kleineren Firmen, die bisher nicht in der Lage waren, die Möglichkeiten von EDI etwa zur Anbindung von Lieferanten, Kunden oder Vertriebspartnern zu nutzen, weil es für sie nicht wirtschaftlich gewesen wäre. Damit sind sie in der Lage, ihre Prozesskosten teilweise dramatisch zu senken, etwa durch ein webgestütztes Beschaffungswesen, aber auch durch flexibele, situationsgerechte Anpassung der Prozesse.
Das zweite Element, die Konzentration auf die Kernkompetenzen, ist spätestens seit der Veröffentlichung von "Back To The Core" durch Autoren der US-Unternehmungsberatung Bain & Company ein zentrales Thema in der Wirtschaft. Es wird zunehmend offensichtlich, dass wir uns in der Hochphase des Goldrauschs häufig verzettelt haben. Unternehmen wollten Wachstum um jeden Preis und in jeder Richtung, und irgendwie ging es ja auch lange gut: Man konnte als Manager ja fast keine Fehler machen. Man eröffnete nur irgendwo etwas Neues, und dann boomte es auch schon. Heute stellen wir plötzlich fest, dass wir uns häufig übernommen haben und uns mit Dingen belasten, die gar nicht zu unserer Kernkompetenz gehören. Diese unrentablen Nebenkriegsschauplätze wirken sich aber belastend auf das Unternehmensergebnis aus. Deswegen wird alles wieder dichtgemacht, womit wir aber natürlich auch Chancen vergeben, nämlich zur Neukonfiguration von Wertschöpfungsketten. Digitale Transformation bietet hier die Möglichkeit, durch effizientes und einfaches In- oder Outsourcing die Chancen auf fokussiertes Wachstum zu wahren.
Die Konzentration auf die eigenen Stärken zwingt das Unternehmen, sich in seiner Rolle neu zu definieren. Es gibt im Wesentlichen zwei Wege, die wir gehen können. Der eine ist die des Spezialisten, also derjenigen, der sich auf wenige oder auf eine Kernkompetenz konzentriert, meist also auf ein einiges Segment in der Wertschöpfungskette. Andererseits gibt es etwas, das wir als virtuelle Integratoren bezeichnen, also solche, die sich auf das Management von ganzen Wertschöpfungsketten von Lieferanten fokussieren. Für die IT-Branche lassen sich zwei Beispiele zitieren: einerseits als Spezialisten die Firma Flextronics, die sich konsequent auf Komponenten und Speicher konzentriert haben, andererseits die Firma Dell als Paradebeispiel für einen virtuellen Integratoren, der auf geschickte Art und Weise ein Heer von Lieferanten, Distributoren und Partnern so gewinnbringend miteinander vernetzt hat, dass darauf ein hochprofitables virtuelles Unternehmen geworden ist. Konzentration auf Kernkompetenz dient also in jedem Fall dem Ziel einer erhöhten Wettbewerbsfähigkeit.
Als drittes Element gilt die Erschließung von neuen Wachstumsoptionen. Die neuen Rollen von Spezialisten bieten dem Unternehmen jetzt die Möglichkeit, neue Dienstleistungen anzubieten und ihre Kernkompetenzen und ihr Spezialwissen anderen in der eigenen Branche, aber auch in anderen Wirtschaftszweigen, zur Verfügung zu stellen. Viele grosse Erfolgsstories der letzten Zeit wurden von Unternehmen geschrieben, die diesen Weg gegangen sind. IBM hat es in den letzten Jahren geschafft, sich als Service Company komplett neu zu erfinden.
Andere Möglichkeiten, durch Digitale Transformation in neue Wachstumsgebiete vorzustoßen, sind die Angebote von digitalen Leistungen. Nicht umsonst ist es so, dass sich heute in allen großen Branchen teilweise mehrere Industrieplattformen oder von mehreren Herstellern gemeinsam betriebene elektronische Marktplätze etabliert haben, etwa in der Automobilindustrie oder in der Chemiebranche. Diese von Industrieriesen betriebene Plattforme zwingen ihrerseits den Mittelstand, sich digital zu vernetzen, denn nur so bleiben sie mit den Großen im Geschäft. Wer nicht mitmacht, der ist früher oder später nicht mehr Lieferant.
Schließlich ist auch das Angebot von komplett neuartigen "eServices" denkbar, aufbauend auf der eigenen Kernkompetenz. Ein Maschinenbauunternehmen wäre beispielsweise in der Lage, externen Kunden sein eigenes Fachwissen im Bereich des Monitoring und Fernwartung von Geräten anzubieten, etwa, indem es sie per Internet überwacht. Denkbar sind auch werkstückbezogene Services oder In-process-Tests, die bei laufendem Betrieb der Maschine vorgenommen werden können, vor allem aber ohne die physische Präsenz eines Servicetechnikers. All dies kann Wachstumspotential für ein Unternehmen sein, das eigentlich in einem völlig anderen Bereich tätig ist. Möglich wird dies durch konsequente Nutzung von Digitaler Transformation.
Bleibt die Frage: Ist das denn auch wirklich zielführend und kann man den Erfolg auch messen? Dazu zwei Aussagen: Einmal ein Zitat aus der ComputerWoche, die kürzlich festgestellt habt, dass Firmen die konsequent eEnabling betrieben haben, die Kosten für Auftragsabwicklung und Beschaffung deutlich, teilweise sogar um bis zu 90 Prozent, gesenkt haben. Oder nehmen Sie die Firma Cisco, einer der ersten Pioniere der Digitalen Transformation. Cisco hat es nach eigenen Angaben geschafft, die Fehlerquote bei der Auftragsausübung durch eEnabling um 90 Prozent zu senken. Die Kundenzufriedenheit sei exzellent, der Umsatz sei mittlerweile fast doppelt so hoch wie im vergleichbaren Branchendurchschnitt.
Digitale Transformation bedeutet also kein vages Zukunftsversprechen, sondern bereits hier und heute realisierte Renditevorsprünge. Es geht auch nicht um Peanuts, sondern um die großen Kostenblöcke im Unternehmen. Kein Wunder, dass die IT-Branche trotz allgemeiner Wirtschaftsflaute auch 2008 und 2009 stolze Wachstumsraten hingelegt haben. Merke: Vernetzung kennt keine Rezession.
Weg mit dem digitalen Müllberg
"40 Jahre Internet - und immer noch ertrinken deutsche Unternehmen in einem Meer von Papier!" Steffen Tampe schüttelt den Kopf. Der Fachmann für Dokumentenmanagement ist Direktor bei der Unternehmensberatung BearingPoint in Leipzig, und er erlebt jeden Tag, wie kleine und große Firmen Geld vernichten mit Geschäftsprozessen, die seiner Meinung nach noch in der "digitalen Steinzeit" festsitzen. Was ihnen fehlt? Der Sachse denkt kurz nach und fällt dann ein vernichtendes Urteil: "Sie haben leider immer noch nicht den Wert von Vernetzung verstanden"
Tatsächlich hat sich der Büroalltag in vielen Firmen trotz PC und Internet in vielen entscheidenden Details nicht wirklich verändert. Noch immer wandern Papierdokumente von Schreibtisch zu Schreibtisch, werden E-Mails ausgedruckt und dem Chef in der Postmappe vorgelegt, suchen hochqualifizierte Mitarbeiter oft stundenlang im Keller nach einem falsch abgelegten Vermerk oder einem wichtigen Vertrag, öffnen selber ihre Briefe und stellen sich am Kopierer hinten an - alles Dinge, die laut Tampe eigentlich längst der Vergangenheit angehören müssten, wenn Unternehmen "ihre Hausaufgaben gemacht und rechtzeitig in ECM investiert hätten."
Die drei Buchstaben ECM stehen für "Enterprise Content Management", zu deutsch "unternehmensweites Dokumentenmanagement", und sie beschreiben eine Welt, die seit Jahren zwar beschworen, aber nie wirklich ernsthaft in Angriff genommen worden ist, nämlich das (weitgehend) papierlose Büro. Nicht, dass Leute wie Tampe ernsthaft glauben, dass Papier ganz aus dem Arbeitsalltag verschwinden wird. "Aber wenn man konsequent versuchen würde, Papier überall dort durch Digitaltechnik zu ersetzen, wo es Sinn macht, könnte die Wirtschaft jedes Jahr Milliarden sparen", ist er überzeugt.
Brinda Dalal, eine Anthropologin, die für die das Entwicklungslabor der Firma Xerox in Kanada arbeitet, wühlt hauptamtlich in den Papierkörben anderer Leute und bezeichnet sich deshalb selbst als "garbologist" - als Müllforscherin. Sie hat bei Ihren Grabungen erstaunliche Erkenntnisse zutage gefördert, zum Beispiel die, dass der durchschnittliche Wissensarbeiter pro Monat 1.200 Blatt bedrucktes oder kopiertes Papier produziert - zweieinhalb handelsübliche Packungen, also. Und was noch schlimmer ist: Ein Fünftel davon wandert noch am gleichen Tag in die Tonne. Insgesamt 44,5 Prozent aller Papierdokumente werden nur für den täglichen Arbeitsbedarf erstellt, also Auftragszettel, Entwürfe oder Notizen.
Wie es anders gehen kann, zeigt das Beispiel der Firma Gabel-Schmidt in Winsen an der Luhe, ein 300 Jahre alter Schmiedebetrieb. Etwa 30 Mitarbeitern fertigen hier Stahlzinken für Gabelstapler, und zwar sowohl Serienteile wie auch Spezialanfertigungen, für die zum Beispiel oft besondere Wärmebehandlungen nötig sind. Die Dokumentation der Bauteile sowie der Qualitätskontrolle erfordert eine Flut von Dokumenten und Formulare, die früher in Aktenordnern gesammelt wurden, die während der Fertigung durch den Betrieb wanderten. Nach der Auslieferung kamen Installationsprotokolle und Kundenberichte vom Außendienst hinzu - ein stattlicher Papierberg für jede ausgelieferte Gabel. Inzwischen sind die Ordner verschwunden. Stattdessen kann jeder Mitarbeiter bei Bedarf eine elektronische Akte aufrufen und bekommt alle wesentlichen Dokumente zu dem betreffenden Bauteil digital auf dem Bildschirm präsentiert. Selbst handgeschriebene Notizen sind dort abgelegt und können jederzeit abgerufen werden. "Wir wollten nicht mehr, dass wichtige Mitteilungen auf Papier in Schränken einstauben, sondern transparent für jeden zugänglich sind", sagt Geschäftsführerin Michaela Schmidt-Lucht. Das System der Firma Mesonic aus Scheeßel in Niedersachsen wurde ursprünglich für die Warenwirtschaft eingeführt, steht aber inzwischen auch Mitarbeitern in der Finanzbuchhaltung ebenso zur Verfügung wie dem Vertrieb. Geplant ist auch die Anbindung einer bereits existierenden Reklamationsabwicklung.
Der Anteil an digitalen Dokumenten in einem normalen deutschen Unternehmen liegt eine Studie von IBM zufolge zwar inzwischen schon recht hoch; zwischen 70 und 80 Prozent der Papierdokumente werden irgendwann gescannt, dazu kommen von den Mitarbeitern bereits in Digitalform erstellte Word-Dokumente oder Excel-Tabellen sowie E-Mails. Doch bleiben die meisten davon ungenutzt, weil nicht zentral darauf zurückgegriffen werden kann. "Maximal 20 Prozent der Dokumente liegen in kodierter Form vor, können also jederzeit gefunden und auch von anderen verwendet werden", sagt Feri Clayton, Leiterin der ECM-Entwicklung bei der IBM Software Group. Der Rest lagert irgendwo auf den Festplatten der Mitarbeiter oder auf dem Mail-Server - "also de facto auf dem digitalen Müllberg, den es fast in jedem Unternehmen gibt", wie sie behauptet.
Das Ziel von ECM, so Clayton, ist es, "Geschäftsprozesse stromlinienförmig zu verschlanken, damit Unternehmen Mehrwert aus den Informationen ziehen können, die bereits im Haus vorhanden sind. Das macht sie profitabler und produktiver."
Die Einführung von ECM sollte bei den einfachen, alltäglichen Dingen beginnen wie beispielsweise dem Posteingang, rät Michael Schiklang, Analyst am Business Application Research Center (BARC), einer Ausgründung der Uni Würzburg. Die gängige Unternehmenspraxis sieht nach seiner Beobachtung so aus: Briefe werden entweder ungeöffnet in die Fachabteilung getragen oder, wenn der richtige Empfänger nicht sofort ersichtlich ist, in der Poststelle geöffnet und inhaltlich zugeordnet. Häufig bleibt die Korrespondenz im Posteingangskorb liegen, etwa wenn der Empfänger im Urlaub, außer Haus oder im Meeting ist - obwohl der Brief unter Umständen wichtige Informationen enthält, die zum Abarbeiten eines Geschäftsvorgangs benötigt werden. Häufig betrifft das Dokument mehrere Mitarbeiter, also werden Kopien gemacht und herumgeschickt. Ist der Vorgang abgeschlossen, wandern die Papier-Originale ins Archiv, wo sie gescannt und entweder weggeworfen oder - wenn es entsprechende Aufbewahrungspflichten gibt - in Aktenordnern abgelegt werden.
"Das Thema automatische Posteingangsbearbeitung gewinnt in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung", behauptet Schiklang. Grund dafür ist neben der immer höher werdenden Erkennungsgenauigkeit der Schrifterkennungssysteme auch "das Bewusstsein von Unternehmen, dass die teilweise Automatisierung von Prozessen erhebliche Qualitäts- und Zeitvorteile mit sich bringen sowie Kosten senken", meint der Fachmann.
Entscheidend ist, dass die Papier-Post gleich zu Beginn durch Scannen digitalisiert wird. Das Original kann gleich im Archiv verschwinden, das elektronische Abbild nimmt seinen Weg durchs Unternehmen, wobei intelligente Software in der Lage ist festzustellen, um was für ein Dokument es sich handelt und zu welchem Vorgang er gehört, etwa durch erkennen der Kunden- oder Rechnungsnummer. Sobald der zuständige Sachbearbeiter das Dokument öffnet, ruft das System sämtlich andere für die Bearbeitung notwendigen Dokumente aus dem digitalen Archiv auf und zeigt sie ebenfalls an, was dem Mitarbeiter zeitraubendes Suchen erspart und die Genauigkeit der Bearbeitung erhöht. "Der entscheidende Unterschied ist, dass vorher gescannt wird und nicht nachher", sagt Schiklang.
Besonders deutlich wird der Vorteil der digitalen Sachbearbeitung bei Dingen wie komplizierte Sammelrechnungen, die oft Dutzende oder Hunderte von Einzelposten enthalten. Alleine für die Prüfung einer einzigen Rechnung benötigte bei der Loewe AG in Kronach ein Buchhalter häufig bis zu einer halben Stunde oder mehr. "Heute schafft er das in zwei Minuten", sagt Christoph Schüler, Chef des Rechnungswesens beim renommierten Fernsehhersteller. Bei einem Einkaufsvolumen von mehr als 200 Millionen Euro nur für die Fertigung schlagen solche Zeitersparnisse spürbar auf die Kosten durch. Das vom deutschen Spezialanbieter Beta Systems gelieferte digitale Rechnungsbearbeitungssystem hat nicht nur die Durchlaufzeiten verkürzt: Schüler kann jetzt auf einen Blick erkennen, welche Rechnungen im Haus unterwegs sind und kann dort, wo es offensichtlich hakt, auch mal nachfassen. Loewe kann dadurch auch die Vorsteuer früher abziehen und die Skontomöglichkeiten voll ausschöpfen. "So verbuchen wir unmittelbare Zeitgewinne, bekommen unser Geld schneller vom Finanzamt zurück und konnten unseren Cashflow verbessern", freut sich Schüler.
Aber auch wenn die interne Vernetzung bei solchen Prozessen wie Postbearbeitung oder Rechnungswesen wie ein Turbolader wirkt, hört der Effekt bei den meisten Unternehmen bis heute schon an der Haustür auf. Der Grund: Trotz Digitalisierung und dem Siegeszug von E-Mail werden beispielsweise Rechnungen immer noch wie zu Kaisers Zeiten mit der guten, alten "Schneckenpost" versandt - ein Umstand, das bei Steffen Tampe blankes Unverständnis auslöst. "Mit digitalem Rechnungsversand kann jedes Unternehmen bis zu 95 Prozent sparen, und zwar sofort!", sagt er, und seine Stimme klingt fast zornig.
Tatsächlich gibt es seit mehr als zehn Jahren das so genannte "E-Invoicing" oder "E-Billing" auch in Deutschland, also die vollständig auf elektronischem Weg übermittelte Rechnung. Allerdings spielt sie im Geschäftsalltag bis heute so gut wie keine Rolle: Lediglich fünf Prozent aller Rechnungen in Europa werden digital verschickt, wie eine Studie der Deutschen Bank im Frühjahr 2009 ergab. Am häufigsten verwenden Firmen in Estland den elektronischen Rechnungsversand, Deutschland taucht in der Tabelle erst an sechster Stelle auf - hinter Ländern wie Norwegen und Italien!
Dabei spart die digitale Rechnung viel mehr als nur das Porto, wie Tampe betont. Eine Vollkostenrechnung zeigt, dass jede Papierrechnung insgesamt Transaktionskosten von mindestens 3,90 Euro verursacht, die beim E-Invoicing komplett entfallen. Auch die eventuell nötige elektronische Zahlungserinnerung kommt im Schnitt zehn Cents billiger. Den größten Vorteil sieht Tampe jedoch in der Prozessoptimierung: "Die elektronische Rechnung kann sofort in die Bearbeitung einfließen, mit anderen relevanten Dokumenten verknüpft und mit Hilfe von vernetzten Genehmigungsprozessen schneller und sicherer bearbeitet werden. Das sind alles wichtige Faktoren, die Zeit und Geld sparen - also warum tun es die Unternehmen nicht?"
Ein möglicher Grund ist neben dem natürlichen Beharrungsvermögen von mittelständischen Unternehmern, Managern und Mitarbeitern auch in technischer Unkenntnis zu suchen. "Viele tun sich mit Dingen wie die Digitale Signatur schwer", gibt Jürgen Michel, Geschäftsführer des Systemhauses Traut Bürokommunikation in Puchheim bei München zu. Dabei benötigen die Unternehmen die elektronische Unterschrift bereits an anderer Stelle, etwa bei der Abgabe der digitalen Steuererklärung (ELSTER) oder der elektronische Einkommensnachweis (ELENA).
Das größte Hindernis bei der Einführung vernetzter Dokumentensysteme ist aber nach Michels Meinung die fehlende Selbstdisziplin: "Solche Systeme verlangen, dass man beim Scannen oder Erstellen von digitalen Dokumenten einen gewissen Aufwand für die Kennzeichnung betreibt, damit sie wiedergefunden oder in die vernetzten Geschäftsabläufe eingebunden werden können." Da ist es schon mal nötig, bei den Dokumentennamen eine gewisse Systematik einzuhalten. Und statt wie gewohnt ein selbst erstelltes Dokument auf der eigenen Festplatte abzuspeichern, muss der Mitarbeiter es ins Zentralsystem legen, wo es mit entsprechenden Kennungen wie Kunden- oder Fallnummer versehen werden muss. "Jemand, der gewohnt war, sein Wissen entweder im Kopf oder im Schreibtisch abzulegen, wird sich am Anfang schwer tun mit dem vernetzten Arbeiten", gibt Michel zu.
Die Vorteile liegen aber auf der Hand, beispielsweise wenn ein Kunde anruft und eine Auskunft will oder sich beschweren möchte. Statt ihn weiter zu verbinden oder in der Warteschlange "verhungern" zu lassen, kann sich der Mitarbeiter per Mausklick alle vorgangsrelevanten Schriftstücke, Verträge oder sonstige Dokumente zeigen lassen und ist sofort auskunftsbereit. "Da fängt die Vernetzung auf einmal an, sich ganz konkret fürs Unternehmen auszuzahlen", ist Steffen Tampe überzeugt, "denn zufriedene Kunden braucht jedes Unternehmen."
Die Aufgabe des Unternehmens 2020 in den kommenden Jahren ist jedenfalls klar. Es wird darum gehen, analoge Lücken in digitalen Abläufen zu erkennen und zu stopfen, durchgängige Prozesse aufzusetzen und die Vorteile der Vernetzung konsequent im Geschäftsalltag zu nutzen, um Kostenvorteile zu realisieren, die Produktivität der Mitarbeiter zu erhöhen und zum Beispiel auch die Auskunftsfähigkeit gegenüber Kunden und Partnern zu verbessern. 2020 wird kein Unternehmen mehr Rechnungen mit der Post versenden. Eigentlich dürften sie es schon heute nicht mehr. ECM wird sich in den kommenden Jahren von einem exotisch klingenden Kürzel hin zu gelebter Unternehmenswirklichkeit entwickeln. Und wir werden uns in einem nachdenklichen Augenblick wieder erstaunt die Frage stellen: "Wie haben wir das eigentlich früher gemacht…?"
Fallbeispiel: Hymer Freizeitfahrzeuge
Sie rollen pünktlich zu Beginn der Urlaubssaison in Richtung Süden, stehen auf dichtgedrängten Campingplätzen, an südlichen Sandstränden oder am Nordkap. Sie versprechen den Traum von der totalen Mobilität, weil sie den Besitzer wie eine Schnecke in die Lage versetzen, sein Haus sozusagen mit sich herum zu tragen und dort zu verweilen, wo es ihm gerade gefällt.
Die Reisemobile der Firma Hymer stehen stellvertretend für eine Branche, die seit Jahren mit einer Mischung aus Hightech und solider Handwerkstradition ein grundsolides Marktfundament aufgebaut hat. 1957 gründete der Ingenieur Erwin Hymer mit seinem Kollegen, dem Raketenkonstrukteur Erich Bachem, in Bad Waldsee eine kleine Firma, um Wohnwagen herzustellen. Heute laufen dort mehr als 1.000 ausgewachsene Reisemobile vom Band, jedes ein komplexes Konglumerat verschiedener Gewerke: Schreinerei, Karrosseriebau, Sanitär, Haushaltselektronik, Möbelbau und natürlich Automobiltechnik. Jedes Exemplar erfordert schon aus Haftungsgründen, aber auch für den Kundendienst eine ausführliche Dokumentation, die früher die Form einer dicken Akte annahm. Da solche Freizeitfahrzeuge in der Regel recht langlebig sind, musste die Akte sorgfältig verwahrt werden. Und da bei Hymer inzwischen mehr als 100.000 Reisemobile das Werk verlassen haben, begann das Archiv recht schnell aus allen Nähten zu platzen.
Die digitale Fahrzeugakte war also irgendwann ein Muss. Zusammen mit der Firma Lobo-DMS, einem in Puchheim bei München ansässigen Spezialisten für unternehmensweites Dokumentenmanagement, ging man bei Hymer daran, einen elektronischen Gesamtüberblick über jedes gefertigte Fahrzeug zu erstellen. Alle Dokumente, die im Laufe des Lebenszyklus anfallen, werden in einem digitalen Ordner gesammelt. Sie bildet die virtuelle Klammer, die alles zusammenhält. Das geschieht durch einen Index, der in jedes Dokument, das in der Firma abgelegt werden soll, verfügbar sein muss. Sozusagen als "Leitkriterium" dient dabei die Seriennummer. Daneben liefert die Indexierung aber auch beschreibende Merkmale, anhand derer das Dokument sich jederzeit wiederfinden lässt. Das können neben der Dokumentenart (zum Beispiel "Garantieantrag") und dem Datum auch inhaltliche Informationen aus dem Dokument selber sein. Hinzu kommen Informationen über den Status des Dokuments und seiner Bearbeitung. Somit kann jeder Mitarbeiter zu jeder Zeit Auskunft über den Stand der Bearbeitung geben. Das verkürzt die Wartezeiten für den Kunden und erlaubt, dass mehrere Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen gleichzeitig auf die Information zugreifen können. "Wer hat die verdammte Fahrzeugakte" gehört damit endgültig der Vergangenheit an.
Neuauflage der New Economy
Auf dem Höhepunkt der Goldgräberstimmung war viel von einer "New" Economy" die Rede, was irgendwie das Vorhandensein einer alten, abgehalfterten Economy voraussetzte. Nun, inzwischen wissen wir, wie falsch diese Einschätzung war. Es gab immer nur eine einzige Economy, es galten immer die gleichen Regeln der Marktwirtschaft für alle. Allerdings macht inzwischen schon das Wort von der "New New Economy" die Rede: Eine Wirtschaft, in der kleine Unternehmen produktiver sein können als große, vor allem aber schneller und flexibler, so dass sie besser auf das unvermeidliche Auf und Ab der Wirtschafts- und Nachfragezyklen reagieren können. Von Chris Anderson, dem Chefreadkteur der amerikanischen Techie-Kultzeitschrift "Wired" geprägt, spiegelt der Begriff eine neue Aufbruchstimmung im Internet wieder, ist aber auch ein Signal: Das Netz gehört in erster Linie dem Mittelstand! In einem so mittelständisch geprägten Land wie Deutschland sollte ein solcher Ruf aufhorchen lassen.
Die New New Economy wird zunehmend geprägt sein von einem Bewusstsein für Rentabilität und gesundes Wachstum. Was sofort zur nächsten Frage führt: Wie gestalten wir den nächsten Schritt in unserer Wirtschaft?
Geld verdienen wird in dieser alten neuen New Economy wieder wichtig sein. In ihr werden Dinge wie Kosteneffizienz und Kostensenkung im Mittelpunkt stehen. Sie wird geprägt sein von fokussiertem Wachstum, nicht mehr von Wachstum um jeden Preis oder in jede Richtung. Die New New Economy wird nicht von jungen Dot.coms und Existenzgründern geprägt sein, sondern von den etablierten Playern im Markt, den Dinosauriern der sogenannten Old Economy. Es werden deshalb in erster Linie große Unternehmen sein, die die großen Erfolgsstories schreiben. Insofern könnte man sagen: yes, size does matter. Es ist durchaus ein Wettbewerbsvorteil darin zu erkennen, dass man bereits eine gewisse Größe besitzt, bereits Kunden hat und vielleicht auf diese Weise auch bereits Geld verdient. Das mussten die anderen erst einmal lernen. Doch davon später mehr.
Die neue Macht des Kunden
Digitale Transformation hat sich in den vergangenen Jahren bereits an einer Stelle im Unternehmen empfindlich bemerkbar gemacht: an der Schnittstelle zum Kunden. Man kann sogar sagen, dass sich unsere bisher angebotsorientierte Wirtschaft dabei ist, sich in eine bedarfsorientierte zu verwandeln. Die fast schon gnadenlose Effizienz des Internets arbeitet für den Verbraucher und gegen den Händler. Der sieht sich zunehmend in die Rolle desjenigen zurückgedrängt, der auf die Wünsche und Anforderungen des Kunden zu reagieren hat. Im Zeitalter der totalen, globalen Vergleichbarkeit, von Online-Auktionen, Power Shopping, elektronischen Preisagenten und virtuellen Einkaufsnetzen ist der Kunde wirklich König.
Das Problem aus Anbietersicht ist, dass dem Kunden durch die fortschreitende digitale Vernetzung immer mehr Machtmittel zuwachsen, mit denen er "seinen" Anbieter unter Druck setzen kann. Ihm stehen neben den klassischen Vertriebs- und Informationskanälen wie Marktplatz, Laden, Katalog oder Telefon inzwischen neue, interaktive Wege zum Angebot offen: eMail, SMS, TV-Shopping und vor allem die grenzenlose Vielfalt des World Wide Web. Der Kunde kann sich Zeit nehmen, kann sich informieren, sich beraten lassen und die Anbieter in Ruhe vergleichen. Das Resultat ist ein Verbraucher, der oft besser informiert ist über das Produkt als der Verkäufer, der ja nicht so viel Zeit hat - er muss verkaufen! Und: Der Kunde hat die Wahl. Er kann eine Eieruhr oder eine Stereoanlage, einen Pullover oder sogar ein Auto im Internet anschauen und im Laden kaufen oder umgekehrt. Er kann sich telefonisch beraten lassen und dann aus einem Katalog bestellen. Keiner kann ihm vorschreiben, welchen Weg er zum Kaufabschluss nehmen soll. Das heißt: Der Anbieter kann es versuchen, beispielsweise indem er einfach seinen Online-Shop zu macht oder erst gar keinen eröffnet. Aber damit nimmt er in Kauf, dass eine bestimmte Zahl von Kunden - wie viele weiß er aber nicht - ihn gar nicht finden werden und stattdessen bei der Konkurrenz einkaufen. Das Schlimmste aber ist: Jeder Kunde entscheidet anders!
Wie muss gerade das Unternehmen 2020 auf eine solche Herausforderung reagieren? Zunächst einmal, indem er dem Kunden auf allen Kanälen entgegen kommt. Er hat im Gegensatz zum Kunden keine Wahl! Das ist schon mal eine fundamentale Veränderung der traditionellen Machtverhältnisse im Markt. Aber es kommt noch schlimmer: Der Kunde kann Widerspruch einlegen, wenn ihm beispielsweise der Preis einer Waren oder einer Dienstleistung zu hoch erscheint. Feilschen nennt man das, wenn es auf einem orientalischen Bazar stattfindet.
In der digitalen Wirtschaft nennt man es "variable Preisfindung", und an ihr möchte der Kunde beteiligt sein. Nicht umsonst sind Auktions-Plattforme wie eBay mit die erfolgreichsten Gründungsunternehmen des Internet-Zeitalters. Sie geben dem Kunden nämlich das Gefühl , an der Preisfindung beteiligt zu sein, sozusagen nur so viel zahlen zu müssen, wie er will. Dass er im Eifer des Biet-Gefechts vielleicht einmal zu oft auf die Maus klickt und am Ende womöglich mehr bezahlt als bei einem regulären Anbieter, bemerkt er nicht - oder zu spät. Und es wird ihm meistens auch nichts ausmachen, denn das Einkaufen bei eBay bietet etwas, das kaum eine andere Vertriebsform vermitteln kann: Leidenschaft und Nervenkitzel! "Emotionelles Einkaufen" heißt das unter Marketing-Psychologen, und sie erschließt eine neue Qualität im Konsumprozess.
In unserem Buch "Das Kundenkartell", das 2004 bei Hanser erschien, haben Dr. Paul Gromball und der Autor dieser Zeilen noch die These aufgestellt, dass sich Kunden, ausgestattet mit der neuen Machtfülle, sich zu virtuellen Einkaufsvereinen zusammenrotten werden. Wenn 20 Kunden auf einmal einen neuen Handy kaufen wollen, dann würde der Anbieter sicher über den Preis jit sich reden lassen, so unsere Logik damals. Das einzige Problem: Irgendjemand würde ein solches Kundenkartell organisieren müssen. Wir stellten uns das so vor, dass daraus ein völlig neuer Berufsstand entstehen könnte, den "Infomediär" - jemand, dessen Handelsware Informationen über Angebot und Nachfrage ist und der sich entweder vom Anbieter oder vielleicht auch vom Kunden mit einer kleinen Provision für seine Dienste entlohnen lassen würde.
Nun, es ist anders gekommen: Vom so genannten "Power Shopping", wie das Prinzip der Online-Einkaufsgemeinschaft auch genannt wurde, hört man heute so gut wie nichts mehr. Sie lebt zwar noch im Bereich des B2B ("Business-to-business") fort, wo Beschaffungsportale den Einkauf insbesondere von einfachen C-Teilen inzwischen radikal verändert haben. Aber die Endverbraucher haben inzwischen eine noch bequemere Art gefunden, zum richtigen Preis zu kommen: Empfehlungsnetzwerke und Preis-Suchmaschinen. Diese sind meist Gründerunternehmen, die sich darauf spezialisiert haben, die Online-Angebot von Tausenden von Anbietern mit Hilfe von Software-Robotern zu durchforsten und die gefundenen Preise in Form von Rankings auf einer Webseite darzustellen - und natürlich findet sich immer das billigste Angebot ganz oben.
So genannte Meinungsportale wie ciao.com (siehe folgendes Fallbeispiel) sind ein hochinnovativer Weg, die neue Macht des Kunden zu bündeln und gegen die Anbieterseite einzusetzen. Sie lehren vor allem eines: Im Zeitalter der totalen Vernetzung kommt alles irgendwann raus! Kein noch so blumiges Werbedeutsch kann die mangelnde Qualität eines Produkts kaschieren. Die Unzufriedenheit der Kunden kann sich heute ihren Weg bahnen, und der Anbieter kann nichts dagegen tun.
Er sollte es auch gar nicht erst versuchen. Und hier offenbart sich eine weitere Facette, die das Unternehmen 2020 kennzeichnen wird: Sie wird offen und ehrlich mit ihren Kunden umgehen und versuchen müssen, sie zu Stammkunden zu machen. Die neue Macht des Kunden zwingt die Anbieterseite dazu, sich genau zu überlegen, wie sie die bestehenden Kunden zufriedener machen können, um (hoffentlich) mit ihnen mehr Geschäft zu machen. Das ist durchaus positiv zu bewerten, denn wie jeder Unternehmer weiß ist es in den vollgestopften Verdrängungmärkten von heute teurer, einen neuen Kunden zu gewinnen, als einen alten Kunden zu bedienen. Ein neuer Kunde kostet erst mal Geld - in Form von Werbekosten und sonstige Akquisitionsausgaben. Im Unternehmen 2020 wird sich der Fokus im Vertrieb deshalb zwangsläufig verschieben müssen. Nicht Marktanteile, sondern Anteile am Kunden werden der Gradmesser sein für erfolgreiches Verkaufen.,
Fallbeispiel: ciao.com
Max Cartellieri wurde der Erfolg nicht nur in die Wiege gelegt. Nun gut, es hilft natürlich, wenn der Vater im Vorstand der Deutschen Bank sitzt und einem ein teures Studium an der London School of Economics finanzieren kann. Aber der junge Cartellieri hat sein Glück schon selbst in die Hand genommen. 1995 gründete er mit Freunden sein erstes Online-Unternehmen, das später ein Teil des erfolgreichen Internet-Portals Autoscout24 wurde.
Normalerweise genügt es den meisten Internet-Unternehmer, wenn sie einmal Kasse machen. Cartellieri nahm sein Geld und gründete gleich das nächste Unternehmen, ein Empfehlungs-Portal, das er "ciao.com" nannte. Die Idee war einfach und verblüffend: Verbraucher sollten ihre Erfahrungen mit Produkten, die sie gekauft hatten, mit anderen teilen und würden dafür sogar bezahlt werden! Nicht viel, aber immerhin. Vor allem: Je offener und vor allem ehrlicher jemand bei ciao.com seine Meinung sagt, desto höher steigt er in der kollektiven Achtung der anderen Besucher auf, er wird mit der Zeit also zum anerkannten Experten. Das setzt voraus, dass man nicht das nachbetet, was in den bunten Werbeprospekten der Herstellerfirmen steht. Das kann für den Anbieter schmerzlich sein, aber er kann sich nicht dagegen wehren. Einige haben es am Anfang versucht und sind gegen ciao.com vor Gericht gezogen - vergebens.
"User Content" nennt Cartillieri das, was seine Firma anbietet - ungefiltertes Feedback vom Markt. Das ist nützlich für andere Kunden, aber auch für die Anbieterseite, die auf diese Weise sozusagen kostenlos Marktforschung bekommen. Das ist auch der Grund, weshalb immer mehr Firmen in den letzten Jahren Schlange gestanden sind, um bei ciao.com Werbebanner und Anzeigen zu schalten oder sich sogar als "Ciao-Partnerunternehmen" registrieren zu lassen. Was wiederum viel Geld in die Kassen von ciao.com gespült hat und das kleine Unternehmen zum Marktführer unter dem "Meinungsportalen" im Internet gemacht hat.
Empfehlungen von anderen Verbrauchern spielen mittlerweile eine bedeutende Rolle im E-Commerce, wie inzwischen auch mehrere Studien belegen. Die Marktforscher von ComCult Research Berlin, die 1032 Internet-Nutzer nach ihren Gewohnheiten bei der Online-Suche zu Produktinformationen befragt hat, fand heraus, dass 70,8 Prozent regelmäßig Rezensionen anderer Nutzer vor einer Kaufentscheidung konsultieren, 55 Prozent nutzen Meinungsportalen im Internet. Im Vergleich mit Produktpräsentationen bei Onlineshops genießen die Käuferrezensionen vor allem eine höhere Glaubwürdigkeit (57,6 Prozent) und werden von 53,7 Prozent der Befragten als unabhängiger eingestuft als die Produktbeschreibungen der Online-Shops.
Max Cartillieri lag also wieder mal goldrichtig. Ds fanden denn auch die Kapitalanleger von Greenfield Online, einem Venture Capital Fond, die 1995 immerhin 154 Millionen US-Dollar für das Münchner Kleinunternehmen (damals 150 Mitarbeiter) hinblätterten. Es war ein gutes Geschäft für den jungen Seriengründer Cartilleri, aber ein noch besseres für Greenfield, denn 2008 bezahlte Software-Riese Microsoft eine halbe Milliarde Dollar für ciao.com, weil man damit die neue Suchmaschine bing.com aufmotzen will. Bing soll die Übermacht von Google bei den Search Engines brechen, und dafür war der Zugriff auf mittlerweile mehrere Millionen schonungslos ehrliche Kundenbeurteilungen, die ciao.com im Laufe der Jahre gesammelt hat, den Leuten von Microsoft offenbar kein kleines, sondern ein richtiges Vermögen wert.
Beziehungsnetze: Der Kunde steht wirklich im Mittelpunkt
Ein anderer Weg, sich als Anbieter gegen die neue Macht des Kunden zu wappnen, wäre, selbst die Vorteile der Kooperation und der Bedarfsbündelung zu nutzen, um sich von Kostenblöcken zu befreien, effizientere Prozesse zu schaffen und vor alle, um Information über den Kunden in Wissen um dessen Bedürfnisse und Begehren zu verwandeln mit dem Ziel, statt Marktanteile lieber Anteile am Kunden zu sichern.
Alleine werden das nicht einmal große, geschweige denn kleine und mittlere Unternehmen schaffen, denn dazu sind die Kundenwünsche zu vielschichtig und komplex. Eine neue Dimension der Partnerschaft ist gefragt, kundenzentrische Beziehungsnetze, durchlässige Informationsstrukturen und blitzschnelle Reaktion - was Erwin Staudt, der frühere Deutschlandchef von IBM, einmal als das "Echtzeit-Unternehmen" bezeichnet hat.
Moderne Informations- und Kommunikationstechnik werden in einer solchen Wirtschaftswirklichkeit eine wichtige Rolle spielen - sie sind aber kein Ersatz für Kundenstrategie und Transparenz. Den Kunden teilen, multiplen Mehrwert schaffen, Kundenbindung neu definieren als die freiwillige Bindung des Kunden an Anbieter, die ihn kennen und zufrieden stellen, so dass sich Loyalität zum Lieferanten für den Kunden erkennbar lohnt: Das sind Erfolgskriterien in einer vernetzten Wirtschaft.
Daraus ergeben sich reizvolle Fragen. Feiert zum Beispiel womöglich der Genossenschaftsgedanke, der bislang im "richtigen" Leben meist an den Hürden von Regionalität und Traditionalismus scheiterte, im Internet-Zeitalter seine Auferstehung feiern in Form von weltumspannenden, branchenübergreifenden, aber ständig sich wandelnden Partnerschafts-Strukturen eine neue Blüte?
Von den Antworten auf solche Fragen wird der Erfolg einer ganzen Generation von Managern und Unternehmern abhängen, die sich jetzt um den Einstieg ins Zeitalter der Vernetzung bemühen. Dabei wird es Gewinner und Verlierer geben - wenigstens eine Regel der Wirtschaft, die sich trotz aller technischer Innovation nicht verändert hat.