Die meisten Deutschen kennen den Namen Woodrow Wilson höchstens wegen der 14 Punkte, die er am Ende des Ersten Weltkriegs vorlegte und die als Grundlage dienten für die Pariser Verhandlungen, aus denen der Versailler-Vertrag hervorging. In meiner Schulzeit wurde er nur kurz behandelt und kam als eine Art wohlmeinender, aber letztlich ziemlich erfolgloser Gutmensch rüber, der am Widerstand des US-Kongresses und der Ausbreitung des Isolationismus in Amerika scheiterte (die US weigerten sich zum Beispiel, den von ihm angezettelten Völkerbund beizutreten).
Okay, man hat ihm immerhin 1919 den Friedensnobelpreis verliehen, aber den bekam Obama ja auch. Und was hat es ihm und uns gebracht?
Überhaupt nicht geredet hat man bei uns in der Schule über Wilson, den Rassisten. Deshalb kamen auch für mich die aktuellen Proteste von Studenten an der Princeton-Universität ziemlich überraschend. Die Kids wollen, dass mehrere nach ihrem ehemaligen Rektor und späteren US-Präsidenten benannten Gebäude und ein beliebtes Café auf dem Unigelände umgetauft werden.
Auch meine erste Reaktion war: „Haben die denn nichts Besseres zu tun? Zum Beispel studieren?“
Das war bevor in der heutigen Ausgabe der New York Times ein Leitartikel erschien mit der Überschrift „Der Fall Woodrow Wilson“, der das Ganze in die historische Perspektive rückte. Wilson war wohl kein heimlicher, sondern ein unheimlicher Rassist, der besser nach Südafrika vor Mandela als in die USA des 20sten Jahrhunderts gepasst hätte. Er war ein erklärter „White Supremacist“, ein Fan des Klu-Klux-Clan, der Schwarze für Untermenschen hielt und alles tat, um sie es auch spüren zu lassen.
Nach dem Bürgerkrieg, der ja mit der Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten endete, sind viele Schwarze in die Nordstaaten ausgewandert, weil man sie im Süden immer noch wie Dreck behandelte. Eine Menge von ihnen landete schließlich in der Hauptstadt Washington DC, was man auch heute noch spürt, wenn man dort zu Besuch ist, denn der Anteil von Afro-Amerikanern liegt dort bei ziemlich genau 50 Prozent. Washington ist also eines der „schwärzesten“ Städte der USA, und viele ehemalige Sklaven machten dort die Staatsdienstprüfung, fanden kurz vor dem Ende des 19ten Jahrhunderte Jobs bei der Regierung und arbeiteten sich hoch. Als Wilson 1913 ins Weiße Haus kam war der Schwarzenanteil zumindest im mittleren Verwaltungsdienst für amerikanische Verhältnisse sehr hoch.
Das passte Wilson überhaupt nicht, und er machte damit auch Schluss! Er ließ schwarze Beamte massenweise degradieren, kürzte ihnen die Gehälter und ekelte viele von Ihnen ganz aus den Ämtern. Als Chef der Postverwaltung, wo der Schwarzenanteil unter den Mitarbeitern besonders hoch war, setzte er einen seiner Freunde ein, einen Südstaatler, der im Wahlkampf versprochen hatte, die Demokratische Partei und die öffentliche Verwaltung ganz von Schwarzen zu säubern. Viele der derart Entsorgten verarmten oder brachten sich um.
Wäre Wilson damals nicht Präsident geworden, hätte Amerika wohl nicht bis 1964 gebraucht, um den Civil Rights Act zu verabschiedeen und damit Schwarze zumindest auf dem Papier die volle Gleichberechtigung zu geben. Der Lebens- und Bildungsstand der schwarzen Bevölkerung wäre heute höher, die furchtbaren Rassenkrawalle von 1967 wären vielleicht nie passiert, und es gäbe in meiner Heimat zumindest einen sozialen Konfliktherd weniger.
Ja, Woodrow Wilson hat eine Menge Dinge, für die er sich dereinst vor einem höheren Gericht zu verantworten haben wird, wenn es eines gibt.
Im Nachhinein finde ich die Proteste in Princeton also nicht nur angebracht, sondern sogar überfällig. Ich möchte auch nicht in einem Woodrow Wilson Cafe mein Frühstück herunterwürgen müssen – mir würde dabei wahrscheinlicht schlecht. Eigentlich möchte ich das Wort „Wilson“ überhaupt nicht mehr hören.
Das ist schade, denn mir klingt immer noch der herzzerreißende Klagelaut von Tom Hanks im Ohr, der in „Cast Away“ (deutscher Titel: „Verschollen“) seinem davonschwimmenden Maskottchen, einem Basketball des gleichnamigen Sportartikelherstellers, hinterher ruft. Wilson hat für mich seine Unschuld verloren – eigentlich schade.