Man merkt, dass man in die Jahre gekommen ist, wenn auf einmal die Jubiläen anfangen sich zu häufen. Als „Internet-Urgestein“ (immerhin habe ich die offizielle Berufsbezeichnung „Internet-Journalist“ bereits 1992 zum ersten Mal auf meine Visitenkarte drucken lassen), fällt mir das vielleicht besonders auf.
Jubiläen sind Meilensteine. Sie sind auch eine Gelegenheit, innezuhalten und zurück zu blicken. Und dazu sind wir, die wir alle in den letzten Jahren am Aufbau der Internet-Wirtschaft mitgewirkt haben, ja relativ selten gekommen. Immerhin haben wir letztes Jahr den 35sten Jahrestag der Erfindung des TCP/IP-Protokolls durch Vinton Cerf und Bob Kahn gefeiert. Beim Stöbern sind mir inzwischen aber auch andere Meilensteine aufgefallen, die sich jähren: 1979, also vor 40 Jahren, stellten zum ersten Mal zwei Studenten an der Duke-Universität eine IP-Verbindung zwischen zwei UNIX-Rechnern her und begründeten das Usenet. Königin Elisabeth schickte vor 35 Jahren als erstes Staatsoberhaupt der Welt eine E-Mail auf die Reise. Und im März 1989, also vor fast 20 Jahren, schrieb Tim Berners-Lee seinen legendären Aufsatz „HyperText and CERN“, was als Geburtsstunde des World Wide Web gilt.
TBL, wie er unter alten Internet-Hasen liebevoll genannt wird, gilt deshalb als Vater von Hypertext, jener revolutionären Erfindung, deren Ziel es war, das ganze Wissen der Welt miteinander zu vernetzen und per Mausklick abrufbar zu machen. Aber wie das so ist mit Kuckuckskindern und mit vielen großen Erfindungen stellt sich oft erst sehr viel später heraus, dass jemand anderer der eigentliche Erzeuger ist.
Der wahre Erfinder des Hyperlinks war nämlich offenbar ein Belgier namens Paul Otlet. Wenn Sie noch nie etwas von ihm gehört haben, dann macht das nichts, denn Sie sind in guter Gesellschaft. Außer ein paar ziemlich verstaubten Museumswärtern im mittelalterlichen Städtchen Mons scheint kaum jemand Otlet zu kennen. Im so genannten Mundaneum-Museum von Mons wird sein Andenken noch gepflegt, denn Paul Otlet hatte schon 1895 die Idee, ein weltweites Netzwerk (er benützte dafür das französische Wort „réseau“) zu schaffen, mit dessen Hilf die Menschen in der Lage sein sollten, Millionen von vernetzten Dokumenten zu durchsuchen, sich gegenseitig Nachrichten und Dateien zu schicken und sich zu Gemeinschaften – auf Internetdeutsch sagt man heute dazu „Communities“ – zusammenzuschließen.
Otlet gründete zusammen mit seinem Landsmann Henri La Fontaine am 12. September 1895 das Office International de Bibliographie mit dem Ziel, eine universelle Weltbibliothek zu schaffen, die er Mundaneum nannte. Er bekam dafür sogar ziemlich viel Geld von der belgischen Regierung, die sich damals (allerdings vergeblich) Hoffnung machte, Sitz des neugeschaffenen Volkerbunds zu werden. Otlet machte sich daran, Informationen über jedes jemals veröffentlichte Buch, jede Zeitschriftenartikel, Pamphlet oder Poster zu sammeln und sie auf ca. 8×13 Zentimeter große Karteikarten zu vermerken. Am Ende waren es mehr als 12 Millionen Stück davon, die alle durch ein von ihm erfundenes Notationssystem aufeinander verwiesen, ähnlich wie das heute wesentlich eleganter durch elektronische Hyperlinks passiert. Otlets System war sogar noch intelligenter als das von TBL, denn seine Links waren bereits kontextsensitiv, konnten sogar auf inhaltliche Übereinstimmungen oder Gegensätze hinweisen oder Beurteilungen enthalten – etwas, das Google & Co. heute mehr schlecht als recht nachzumachen versucht.
1934 schrieb Otlet ein Buch („Monde“) in dem er die Vision eines weltweiten Netzwerks von „mechanischen kollektiven Gehirnen“ beschrieb, die er „elektrische Teleskope“ nannte. Schon vorher hatte er darüber spekuliert, dass sich Informationen und Daten irgendwann elektronisch speichern lassen würden. Er hatte also bereits den modernen Computer vorausgesehen.
Leider haben die Deutschen das Gebäude, in dem das Mundaneum untergebracht war, nach dem Einmarsch 1939 in eine Ausstellung von Nazi-Kunst umgewidmet, und die meisten von Otlets Karteikarten wanderten auf den Müll. Er starb 1944, ein gebrochener Mann. Es dauerte bis 1968, ehe ein junger Student namens W. Boyd Rayward in einem alten Gebäude der anatomischen Fakultät der Freien Universität von Brüssel unter Staub und Spinnweben auf die kläglichen Reste der Sammlung stieß und sich daran machte, ein Museum zum Andenken an den Erfinder des weltweiten Datennetzwerks zu machen.
Aus Anlass seines 10jährigen Jubiläums hat das Mundaneum-Museum eine Festschrift unter dem Titel Le Mundaneum, les archives de la connaissance“ herausgegeben – auf Französisch, wie die die Website (http://www.mundaneum.be) und Ausstellung selbst. Vermutlich würde sich Otlet im Grabe drehen wenn er wüsste, dass seine Idee von einem weltweiten Netzwerk an Sprachgrenzen scheitern würde…