Also, ich halte es ja nicht so mit der Religion. Aber wenn, dann wäre ich gerne Sikh.
Der Gurdwara von Delhi ist ein imposantes Bauwerk mit einer goldenen Kuppel, die ein bisschen an den Tempel von Amritsar erinnern soll, sozusagen der Petersdom der Sikhs. Gopal Singh, der Fahrer, der sich heute mit seinem Tuk-Tuk, in dem ich saß, eine halsbrecherische Fahrt durch die indischen Hauptstadt geleistet hat und dabei keine Miene in seinem weißbärtigen Gesicht verzogen hat, fand es wichtig, mich zuerst hierher zu führen, bevor er mir die anderen Sehenswürdigkeiten Delhis zeigte. Und am Ende sind wir so lange dort geblieben, dass ich für nichts anderes mehr Zeit hatte.
Es war Feiertag, und die Sikhs sind mit Kind und Kegel in die Gurdwara geströmt, um auf und ab zu flanieren, mit den Kindern über den Rasen zu tollen und sich mit Freunden zu treffen. Zwischendurch geht jeder in den Tempel, wo ein Granthi – eine Art Laienprediger, denn Priester kennt die Sikh-Religion nicht – aus dem Guru Granth Sahib, dem heiligen Buch, vorlas. Dazu spielten drei Musiker auf irgendwelchen indischen Instrumenten und sangen dazu mit leicht weinerlicher Stimme Hymnen, die bei ihnen Kirtan heißen, was so viel heißt wie „lobet den Herren“. Danach gehen sie hoch auf die Empore und lesen ein Kapitel aus dem Heiligen Buch und gehen dann hinunter an das große Reservoir, das die Ausmaße eines Fußballfelds hat und mit geweihtem Wasser gefüllt ist. Darin baden sie und füllen dann ein paar Flaschen davon ab, um es zu Hause zu trinken zwecks seelischer Reinigung. Nein, über Infektionsgefahr und Hygiene redet keiner, aber es scheint auch niemandem so richtig dreckig zu gehen. Außerdem schwimmen in dem Wasser Hunderte von Goldfischen, vielleicht beseitigen die ja das Schlimmste.
Gopal Singh führte mich anschließend hinter den Tempel, und dort habe ich ein Schauspiel erlebt, ds mich wahnsinnig beeindruckt hat. Dort betreibt die Sikh-Gemeinde unter einem Wellblechdach eine riesige öffentliche Garküche, der Pangat. Es sitzen Männer im Turban und Frauen in bunten Sari auf dem Boden und kneten mit den Händen Teigbällchen, die zu Fladen ausgebreitet und auf einem heißen Stein ausgebacken werden. Andere bereiten riesige Zuber voll Reis und Dal, einer köstlichen schmeckenden Brei aus Linsen und Gewürzen. Vorne an der Ausgabe schöpft ein dicker Sikh großzügige Portionen auf Blechteller und reicht sie in die wartenden Hände, ohne Rücksicht auf Geschlecht, Ansehen, Religion oder Neigung. Wer da ist, bekommt zu essen – punkt. Das ist für jeden gottesfürchtigen Sikh ein selbstverständlicher Teil seiner Religionsausübung, denn „Sikhtum besteht aus praktischem Leben, aus Dienst an der Menschheit, aus dem Stiften von Toleranz und brüderlicher Nächstenliebe“. So steht es in der Broschüre „What is Sikhism?“, das ich am Ausgang überreicht bekomme, wo ich meine Schuhe wieder anziehe und das orangefarbe Kopftuch zurückgebe, mit dem ich während meines Besuchs im Tempelbezirk mein Haupt weisungsgemäß verhüllt habe.
Der Gründer der Sikh-Konfesion, Guru Nanak, der 1469 in einem kleinen indischen Dorf namens Talwandi geboren wurde, soll sich schon in früher Kindheit gegen die sinnlosen Rituale, Aberglauben und Dogmen der Religionen aufgelehnt haben, die er überall vorfand. Er predigte stattdessen, dass einen einzigen Gott gäbe, der in uns wohnt und der sich vor allem im Verstand offenbart. Sie Sikhs kennen keine Altare, keine Gottesbilder und keine Kasten. Ihre Frauen tragen keinen Schleier und sind gleichwertige Mitglieder der Gemeinschaft. Mitgifte (doweries) sind ihnen fremd, aber dafür gibt es auch keine Scheidung bei den Sikhs. Dennoch haben es Sikh-Frauen offenbar besser als ihre Hindu- oder Moslem-Schwestern. Jedenfalls behaupteten das die Frauen, mit denen ich mich unterhalten habe.
Ich muss gestehen, dass mir Religiosität grundsätzlich fremd ist, obwohl (oder vielleicht gerade weil) ich ein evangelischer Pfarrerssohn bin. Aber wenn ich in mir den Wunsch verspüren würde, mich einer Religionsgemeinschaft anzuschließen, dann könnte ich eine schlechtere Wahl treffen, als Sikh zu werden. Eine Religion, die menschliche Vernunft in den Mittelpunkt stellt, die Toleranz predigt und Nächstenliebe täglich praktiziert, die den Armen zu essen gibt und die Frauen als gleichberechtigt anerkennt, die erklärtermaßen Pessimismus ablehnt und Optimismus zu einem Glaubengrundsatz erhebt, die keine Priester kennt und die vor allem jedem offen steht, der ihre Prinzipen akzeptiert, sich ihrem Verhaltenskodex unterwirft und sich taufen lässt, die hat schon wieder so etwas Progressives an sich, dass man darüber vielleicht sogar solche Anachronismen übersehen könnte wie die Pflicht des Mannes, stets ein Schwert bei sich zu tragen und niemals Haupt- oder Barthaare schneiden zu lassen oder eben auch das Scheidungsverbot – Dinge, die junge Sikhs ohnehin inzwischen zunehmend beiseite schieben.
Wie gesagt: Wenn schon, dann so eine Religion. Oder vielleicht könnten andere Religionen sich mal eine Scheibe davon abschneiden…