Welchen Tim Cole hätten Sie gerne?
Tim Cole ist ein ziemlich schlimmer Mensch. Er sitzt deshalb hinter Gittern, und zwar in der Todeszelle. 1987 hat er einen 66 Jahre alten Mann erwürgt, der ihn bei einem Einbruch überrascht hatte. Auf seinem Foto starrt er feindselig in die Kamera. Die Nase ist verbogen, die Augenbrauen wuscheln, die Haare sind zerzaust. Abstehende Ohren hat er auch. Nein, kein sympathischer Mensch, dieser Namensvetter von mir.
Wie die meisten Menschen habe auch ich mich bisher immer für einmalig gehalten, ein ganz seltenes Exemplar der Spezies Homo sapiens, eine Einzelkreation, sozusagen. Das war, bis ich kürzlich Google nach „Tim Cole“ fragte und mehr als 3,6 Millionen Fundstellen zurück bekam. Mein einziger Trost: Google spuckt mich wenigstens auf Platz eins aus (Tim Cole – Publizist für Wirtschaftstechnik, Text, Moderation, Training.
www.cole.de). Sogar die ersten sieben Plätze beziehen sich auf mich, den „wahren“ Tim Cole.
Anders sieht die Sache aus, wenn ich nach Bildern von mir suche. Da komme ich erst als Dritter an die Reihe. Nummer eins ist ein nett aussehender junger Schwarzer, der aber leider ebenfalls mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Timothy Cole wurde 1985 von einer rein weißen Jury in Austin, Texas, wegen Vergewaltigung einer weißen Frau namens Michelle Maulin zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, obwohl er immer wieder seine Unschuld beteuerte und sogar das Angebot einer milderen Bestrafung ablehnte, wenn er gestehen würde.
Vier Jahre später starb er im Gefängnis, weil der Gefängnisarzt sein Asthmaleiden nicht richtig behandelt hatte. Fünf Jahre später gestand der mehrfach vorbestrafte Sexualverbrecher Jerry Wayne Johnson, die Frau vergewaltigt zu haben. 2009 wurde Tim Cole schließlich von einem Berufungsgericht in Texas postum für unschuldig erklärt.
Es gibt unter meinen viele, vielen Namensvettern eine Menge höchst ehrbarer Leute: Pfarrer, Lehrer, Basketballtrainer, Toningenieure, Fußballspieler, Universitätsprofessoren, Rockmusiker, Unternehmensberater und Autotuner. Ein Tim Cole ist Chief Registrar Liaison bei ICANN, einer anderer sammelt Klapperschlangen, wieder ein anderer ist mit einem riesigen toten Fisch auf einer Webseite über das Karpfenfangen zu sehen. Ein Tim Cole ist „Indesign-Evangelist“ bei Adobe, ein anderer ist Golflehrer in Kanada.
Es wäre mal eine Reise wert, zumindest mal die interessantesten Typen unter ihnen zu besuchen. Ich stelle mir das witzig vor, wie wir da sitzen und uns gegenseitig ins Gesicht schauen und denken: „So sieht also Tim Cole auch aus. Wer hätte das gedacht…“
Auf jeden Fall hat mich das Ganze eines gelehrt: Demut. Ich bin nicht so einzigartig, wie ich dachte. Im Gegenteil: Ich bin einer von vielen…