Unser Wiener Käsblättle (a.k.a Die Presse am Sonntag) setzt ihre Serie von hinterhältigen kulturpessimistischen Technophobie-Attacken heute mit der Überschrift „Auszeit im sozialen Exil“ fort. Es handelt sich um eine Reportage über eine Dame, die beschlossen hat, ein halbes Jahr lang die digitalen Brücken hinter sich abzubrennen und ins soziale Exil zu gehen.
Ianina Ilitcheva heißt sie und gibt als Berufsbezeichnung „Künstlerin“ an. Sie hat sogar ein Buch darüber geschrieben, das sie „183 Tage“ nannte und in dem sie auf sage und schreibe 288 Seiten von – ja wovon denn: eigentlich von nichts, also dem Fehlen von etwas, nämlich der sozialen Kommunikation – erzählt. Angeblich wollte sie herausfinden, aus welchen Quellen sie ihre Inspiration schöpfen würde, wenn sie den Kontakt zur Außenwelt abstellt. „Für mich war die wichtigste Frage: Brauche ich für meine Arbeit Einflüsse von außen, oder hab ich so viel in mir angesammelt, dass ich daraus schon etwas machen kann?“
Frau Ilitcheva hatte dazu nur 32 Jahre Zeit, denn sie ist 1983 in Usbekistan geboren. Sie studierte bis vor kurzem an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und legt gerade ein Zweitstudium über Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst nach. Sie beschreibt, wie sie ein Abschiedsfest feierte und sich dann in ihre Wohnung zurückzog. Manchmal sei sie nachts alleine durch die Wiener Straßen gegangen. Einmal im Monat meldete sie sich mit einem Blogeintrag bei Freunden und Kollegen, damit sie wüssten, dass sie noch lebt. Dann starb auch noch ihr alter Hund, und sie spürte angeblich da erst, „dass man wirklich allein in einem leeren Raum ist.“
So ganz konsequent war sie wohl nicht. „Im Sinne des wissenschaftlichen Experiments“ eröffnete sie einen anonymen Twitter-Account und postete dort Selbsterfahrungen. Und einmal nahm sie eine Auszeit von der Auszeit, um in Spanien ein Kongress zu besuchen, wo es ihr „richtig seltsam und ungewohnt“ vorkam, „wieder mit Menschen zu kommunizieren.“
Im Grunde ist Frau Ilitcheva ja in guter Gesellschaft, jedenfalls in Österreich, wo laut einer Studie des Linzer Spectra Instituts gut ein Drittel der Bevölkerung zu den Internet-Ablehnern zählt. Allerdings ist sie dort eher eine Ausnahme, denn zwischen Online-Nutzung und gesellschaftlichen Status sowie Bildungsniveau gibt es einen direkten Zusammenhang: „Während nur 55 Prozent der Pflichtschulabgänger online sind, tummeln sich 91 Prozent der Maturanten und Akademiker im Netz“, schreibt die Online-Zeitung format.at.
Bei ihr liegt der Fall aber anders: Sie war ja nach eigenen Angaben bis dato eine überdurchschnittlich fleißige Onlinerin mit mehr als 30.000 Tweets unterm Gürtel. Da bin ich mit knapp 3.000 ein Waisenknabe dagegen. Sie ist eher vorübergehend zur Spezies der digitalen Einsiedler zu zählen, also Menschen, die sich, so die Wikipedia-Definition, geographisch, mental oder gesellschaftlich von der Norm distanzieren.
Frau Ilitcheva ist demnach am ehesten der Gruppe der „gesellschaftlichen Einsiedler“ zuzuordnen, die – ebenfalls laut Wikipedia – an folgenden Eigenschaften zu erkennen sind:
- ihre individuellen Merkmale (wie Introversion, Langsamkeit), durch die sie nicht dem Zeitgeist und den Anforderungen ihrer Umwelt entsprechen; sie finden kein passendes Gegenüber für einen befriedigenden zwischenmenschlichen Austausch;
- ihre Kritik an den geltenden Normen, welche zu einem Bruch mit der Gesellschaft, zu einem äußeren Ausstieg führt. Um sich von den gesellschaftlichen Zwängen zu befreien, gibt der Äußere Aussteiger meist alles auf, was vorher sein Leben bestimmte, wie Beruf und Freunde.
Nun gelten Einsiedler ja landläufig als eher rückständig, auch wenn die römisch-katholische Kirche diese Lebensform seit 1983 wieder als „geweihtes Leben“ kirchenrechtlich anerkennt. Im 18ten Jahrhundert leisteten sich britische Adelige gelegentlich einen eigenen Einsiedler, der dafür bezahlt wurde, in den nachgebauten Burgruinen auf ihren weitläufigen Landsitzen zu wohnen. Und vergessen wir nicht Yoda aus „Star Wars“, der ursprünglich als Eremit dargestellt wurde.
Das ist alles ganz nett und unterhaltsam, und es mag ja sein, dass in einem bürgerlichen Feuilleton wie dem der Presse am Sonntag auch Platz dafür gibt. Aber es reiht sich ein in eine Abfolge von Beiträgen, in denen dem geneigten Leser ein Weltbild suggeriert wird, in dem Internet und Online als im Grunde widernatürlich und irgendwie schädlich dargestellt werden. Blättern man beispielsweise zwei Seiten weiter, springt einem die Schlagzeile „Technik, die uns faul und dumm macht“ ins Auge. Es geht um Navis und andere Produkte, die so bequem sind, dass wir „das Denken vergessen“. Das ist, ein bisschen platter und populistischer, die alte Frank Schirrmacher-Leier von der „Ich-Erschöpfung“ und der Frage, „was geschieht im Internet-Zeitalter mit meinem Gehirn?“
Tatsächlich sind weite Teile der „Qualitätsjournalisten“ im deutschsprachigen Raum im Grunde ihres Herzens Internet-Ablehner. Kann man ja verstehen, wo doch Online für sie eine existenzielle Bedrohung darstellt. Schuld daran sind einmal ihre Verleger, die zu kurzsichtig waren, das neue Medium rechtzeitig anzunehmen und dafür sinnvolle – sprich: gewinnberingende – Anwendungen zu finden.
Aber es ist auch eine selbstverschuldete Abkopplung vom Zeitgeist im Spiel. Journalisten hierzulande (full disclosure: ich lebe in Österreich, habe aber mein ganzes journalistisches Berufsleben in Deutschland verbracht) verstehen sich als Bewahrer, als Verteidiger einer romantisch verklärten Vergangenheit, als Mahner vor Veränderung, vor allem Neuen, denn was neu ist, ist fremd und deshalb potenziell bedrohlich.
Historisch ist das sicher auf das Selbstverständnis des deutschen Journalismus als Mitglied des Establishment zurückzuführen. Journalisten im deutschsprachigen Raum waren traditionell meist parteigebunden. Ihnen lag daran, im Einvernehmen mit der Obrigkeit zu leben, von deren Wohlwohlen sie meist materiell abhängig waren, gar nicht zu reden von der Gefahr, für einen falsches Zungenschlag im Leitartikel für absehbare Zeit hinter Gittern zu landen. Nicht umsonst verdanken wir Deutschland die Erfindung des „Sitzredakteurs“, dessen Job es war, anstelle seines Chefredakteurs im wahrsten Sinn des Wortes einzusitzen.
Das Problem, das sich im Zeitalter der Digitalen Transformation stellt, ist, dass eine solche rückwärtsgerichtet Geisteshaltung auf die Leser ansteckend wirkt. Und es lesen ja auch Manager und Unternehmer die Zeitung – und fühlen sich in ihrer vorgefassten Ansicht bestätigt, dass alles Digitale lästig und am Ende wahrscheinlich sogar schädlich ist. Und diese Geisteshaltung dient dann als Argument für das Aufschieben dringend notwendiger Veränderungen, die in anderen Ländern mit einer anderen Grundeinstellung zum Digitalen längst angegangen werden.
So machen sich Journalisten nicht nur bei der Presse am Sonntag regelmäßig mitschuldig an der Misere der deutschen (und österreichischen) Wirtschaft, die in vielen Schlüsselbereichen der Digitalen Transformation wie das Industrial Internet oder die Arbeitswelt von morgen dem Rest der entwickelten Welt hinterher trotten. Warum sonst verlangen 70 Prozent der Chefs von ihren Mitarbeitern Präsenzpflicht im Büro, warum liegt Deutschland bei Breitbandanschlüssen unter allen OPEC-Ländern an vorletzter Stelle?
Solche Journalisten schneiden sich natürlich damit ins eigene Fleisch, denn für die junge, nachwachsende Generation von „Digital Natives“ sind sie als Informationsquelle zunehmend irrelevant. Die alten Leser sterben langsam weg, junge lesen keine Zeitung, und so nimmt das Zeitungssterben seinen Lauf – ein selbstverschuldeter Teufelskreis.
Nun, ich werde nach wie vor die Presse am Sonntag auch unter der Woche lesen und mich über die latente Technophobie meiner Kollegen ärgern. Aber ich tue es nicht mehr lange: Ich bin 65 und mein Ablaufdatum ist ein Absehbares. Nach mir die Sintflut? Hoffentlich nicht. Schließlich ist es ja die Hoffnung, die zuletzt stirbt…