Das Wissen um den Kunden und seine Wünsche ist heute vor allem deshalb so wichtig, weil sich der Einkaufsvorgang selbst grundlegend verändert hat. Einkaufen war früher ein mehr oder weniger linearer Vorgang: Der Kunde sah etwas, das ihm gefiel oder hörte davon. Er ging in den Laden, legte die betreffende Ware in seinen Einkaufskorb und bezahlte. Für den Anbieter war die Sache relativ einfach: Er konnte sich voll und ganz auf den goldenen Moment konzentrieren, wenn der Kunde den Geldbeutel zückte oder den Kugelschreiber zum Unterschreiben in die Hand nahm. Der „Point of Sale“ war der Ort, auf den all seine Bemühungen ausgerichtet waren: Marketing, Marktforschung, Loyalty-Programme, selbst die Schulung seines Verkaufspersonals war auf den „PoS“ fokussiert.
Und heute? Der Kunde sieht etwas im Internet, vielleicht in einem YouTube-Video, einem Empfehlungsportal oder auf der Webseite eines Freundes. Er fragt herum: Wer hat das schon einmal gekauft? Wer kennt den Hersteller? Ist er seriös? Und beantwortet er Anfragen? Wie ist der Kundendienst? Kann man dem vertrauen? Erst dann wird entschieden, wo man kauft: Im Online-Shop des Herstellers, über ein Preisvergleichsportal, wie idealo.de oder preis.de, oder vielleicht doch im stationären Handel?
Aber damit ist die Unterhaltung noch lange nicht zu Ende: Nach dem Kauf wird erst einmal fleißig gepostet: auf Facebook oder per Twitter, im eigenen Blog oder als Kommentar im Blog eines anderen. Da werden Erfahrungen ausgetauscht und notfalls auch vor dem Produkt oder dem Anbieter gewarnt.
Marketing-Spezialisten nennen diesen Prozess „Customer Journey“. Damit wird der Weg beschrieben, den der Kunde typischerweise zurücklegt, bevor er eine Kaufentscheidung trifft. Sie beginnt immer häufiger draußen in den Weiten des Internets, auf Plattformen und Foren, wo sich Menschen heute zum Austausch und zur Diskussion treffen. Es sind die Stammtische des Digitalzeitalters, Orte der Begegnung, wo Meinungen geformt und Entscheidungen vorbereitet werden.
Wie durch einen Trichter hindurch wird der Kunde irgendwann zur Homepage eines einflussreichen Bloggers geleitet, der über Vorzüge oder Nachteile bestimmter Produkte berichtet und die meist völlig subjektive Meinung als unumstößliche Weisheit ausgibt. Blogger haben heute die Funktion, die einmal die Journalisten von „Stiftung Warentest“ oder „WISO“ ausübten, nämlich scheinbar objektive Kaufberatung und damit wichtige Lebenshilfe zu geben.
Der Trichterhals einer Customer Journey wird immer enger, und er mündet schließlich auf der Homepage des Anbieters. Damit aber verändert sich die Rolle der Website komplett: War sie einst als Schaufenster des Unternehmens im Cyberspace konzipiert, an der potenzielle Kunden entlangspazieren und in aller Ruhe ihre Kaufentscheidung treffen sollten, ist sie zur bloßen Transaktionsplattform verkommen. Bis der Kunde auf der Homepage des Anbieters ankommt, ist seine Entscheidung längst gefallen – falls er die Website überhaupt noch zu Gesicht bekommt: Immer mehr Kunden gelangen über eine Smartphone-App zum Anbieter, also unter Umgehung solcher Wegstationen wie Suchmaschinen oder Landing Pages. Die Homepage dient, wenn überhaupt, nur noch dazu, den eigentlichen Kaufvorgang möglichst schnell und komfortabel abzuschließen. Und dafür hat sich der arme Anbieter jahrelang so abgemüht, seine Webseite nach allen Regeln der Suchmaschinenoptimierung und des Search Engine Marketings zu gestalten, und viel Geld investiert.
Aber selbst die beste Website oder App nützt gar nichts, wenn der Kunde beschließt, doch lieber wie früher im Laden einzukaufen. Noch nie gab es so viele Kanäle, wo sich Anbieter und Kunde näher kommen können: stationäres Geschäft und Online-Shop sind nur zwei davon. Es gibt Kunden, die nach wie vor gern im Katalog blättern. Andere sind Fans von Teleshopping – eine Gattung, die es bei uns erst seit dem Aufkommen des Privatfernsehens Ende der 1980er Jahre gibt
Der Kunde weiß am besten, was er will
Bereits Ende 2011 hat eine Studie, die gemeinsam von der Verbraucherinitiative e.V. und eBay durchgeführt wurde, gezeigt, dass sich die Verbraucher über alle Kanäle hinweg informieren und kaufen wollen: online, offline und mobil.
- 90 % aller Offline-Käufer informieren sich vor einem Kauf im Internet oder mobil direkt im Geschäft.
- 80 % der Online-Käufer gehen vor einem Kauf in ein Geschäft, um sich über das “Touch & Feel” ihrer Wunschobjekte zu informieren.
Ein Händler, der nur einen dieser Kanäle bedienen kann, ist chancenlos, wenn sein Kunde beschlossen hat, einen anderen Kanal für seinen Einkauf zu nutzen. Dieser Zwang, neue Vertriebswege zu gehen, führte in den späten 1990er Jahren zum Aufkommen des „Multichannel-Vertriebs“, bei dem ein Anbieter nicht nur sein angestammtes Geschäftsmodell betrieb, sondern parallel dazu auch andere Kanäle zu besetzen versuchte. Heute betreiben viele stationäre Händler ebenso wie Versandhäuser nebenbei einen Online-Shop, die allerdings in der Regel kaufmännisch, organisatorisch und logistisch getrennt sind.
Was ist aber, wenn mein Kunde auf mehreren Kanälen gleichzeitig unterwegs ist? Wie sorge ich dafür, dass er überall gleich zufrieden ist? Was passiert, wenn ich auf einem Kanal schwach bin, zum Beispiel online. Wirkt sich das womöglich auf mein stationäres Geschäft aus? Und was ist, wenn die Mitarbeiter und Abteilungen, die für die verschiedenen Vertriebskanäle meines Unternehmens zuständig sind, plötzlich beginnen, sich nicht mehr gemeinsam um die Kunden zu kümmern? Schließlich ist ja jeder am Ende des Jahres für sein eigenes Ergebnis verantwortlich.
Klar ist, dass sich nur durch ein geschicktes Zusammenspiel über Kanalgrenzen hinweg ein durchgängiges und einheitliches Kundenerlebnis sicherstellen lässt. Einige Unternehmen haben das erkannt und nutzen die Vorteile der verschiedenen Kanäle, ohne an die typischen Nachteile der einzelnen Kanäle gebunden zu sein. So hat Amazon im Februar 2015 sein erstes Ladengeschäft auf dem Gelände der Perdue-Universität in Indiana eröffnet. Studenten können dort Bücher, die sie online bestellt haben, abholen und bezahlen – und zwar rund die Uhr! Außerdem hat Amazon angeblich Interesse an der Übernahme der Ladenfilialen der Elektronikkette RadioShack bekundet, was dem Altmeister des Online-Handels plötzlich eine landesweite stationäre Präsenz in den Vereinigten Staaten bescheren würde.
In dem Maße, wie der Kunde sich die Freiheit nimmt, heute so und morgen ganz anders zu kaufen, werden auch Anbieter gezwungen sein, ihre Aktivitäten zu bündeln und vom altern Multikanalvertrieb zu einem System zu wechseln, das inzwischen als „Omnichannel“ bezeichnet wird.
Dabei handelt es sich um einen kanalübergreifenden Ansatz, die Vorteile von digitalen und klassischen Kommunikations- und Vertriebskanälen möglichst nahtlos verbindet, damit der Kunde von der ersten Informationssuche bis zum Kaufabschluss über alle Kontaktpunkte mit dem Unternehmen gleichermaßen erkannt und angesprochen wird. Diese umfassende Betrachtung des Kunden setzt beim Anbieter ein hohes Maß an interner Vernetzung und schnelle Analysefähigkeiten voraus sowie ein fundiertes Verständnis der unterschiedlichen Informationswege und Kaufentscheidungsprozesse. Außerdem muss der Anbieter in der Lage sein, Zielkonflikte seiner eigenen Mitarbeiter und Abteilungen zu erkennen und zu lösen. Das setzt sehr leistungsfähige IT-Systeme voraus; aber die Technik ist nur die eine Seite der Medaille. Echter Omnichannel-Vertrieb bedeutet einen fundamentalen Kulturwandel im eigenen Unternehmen. Und der entsteht nicht über Nacht.
Dieser Text ist meinem neuen Buch entnommen, „Digitale Transformation„, das am 5. Oktober im Vahlen-Verlag erscheint.
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