Die beste Muschel der Welt ist gar keine, sondern eine Schneckenart. Trotzdem ist die Abalone gerade dabei, der Auster den Rang als edelste Meeresspeise abzulaufen. Schuld daran ist ein starrköpfiger Franzose und seine Vision.
Der Wind über der „Emerald Coast“, der rauen Smaragdküste westlich von Vancouver, weht kalt und ohne Unterlass. Die Nootkas, die Ureinwohner dieser Gegend, lebten von den Muscheln, vor allem die köstliche „Seeohren“, die sie „Abalone“ nannten und die sie bei Ebbe in großen Mengen sammelten. Doch wenn der Sturm tobte, konnten sie nicht ins Meer hinaus waten, und so musste ihr Volk oft wochenlang hungern.
Der Legende nach beschlossen sie schließlich, den bösen Wind zu töten. Aber der Westwind lenkte ein und versprach ihnen, wenn sie ihn am Leben ließen, nur noch sanft zu wehen und ihnen so den Zutritt zu den Abalonebänken zu gestatten. Dafür dankten sie ihm, indem sie die Schalen säuberten und daraus Masken fertigten, die sie ihm zu Ehren bei ihren Festen trugen. Und so kommt es, dass die Haliotis tuberculata, wie diese Gattung der Gastropoden („Bauchfüßler“) bei den Naturwissenschaftlern heißt, zum Wappentier der Nootkas.
Gourmets haben andere Namen für die muschelartigen Flachtiere: „Goldstücke der See“, zum Beispiel, oder „Trüffel der Meere“. Denn die Abalone gilt vor allem in europäischen Feinschmeckerkreisen als große Delikatesse, quasi als der legitime Nachfolger der Auster, die inzwischen für viele inzwischen zu einer Art Armeleute-Speise herabgewirtschaftet worden ist (was wie eine Ironie des Schicksals anmutet, denn Austern waren tatsächlich in früheren Zeiten für ärmere Küstenbewohner oft die einzige preiswerte Form von tierischem Eiweiß, die sie kannten). Mit Austern hat die Abalone übrigens nur gemeinsam, dass beide als Schalentier im seichten Meerwasser wohnen, denn die „Irismuschel“, wie sie wegen der schillernden Perlmuttfarbe im Innern der Schale genannt wird, gehört gattungstechnisch gar nicht zu den Muscheln: Sie ist eine Verwandte der Seeschnecken
Dreisterne-Koch Christian Bau von Victor’s Gourmet-Restaurant Schloss Berg in Perl-Nennig an der Mosel serviert beispielsweise seinen Gästen im Rahmen seiner „Voyage culinaire“ gerne Abaolone mit säuerlich eingelegtem Gemüse und frischen Kräutern. Auch Ferran Adrià, der Chef des einst weltbesten Restaurants, „El Bulli“ bei Barcelona, schwört wie seine Kollegen im Feinschmecker-Tempel „George V.“ in Paris, wo sie als Tartar auf Blätterteig oder als Hauptgericht gebraten mit Algen-Chutney gereicht werden. Der Geschmack der Abalone wird als „süß und butterig wie eine Jakobsmuschel, mit einem feinen Nachgeschmack Meerwasser“ beschrieben.
Traditionell werden Abalone aus der Schale gelöst und wie ein Schnitzel plattgeklopft, bevor sie leicht paniert in die Bratpfanne kommen. Das ist auch nötig, denn Abalonenfleisch kann bei sorgloser Zubereitung äußerst zäh sein. Es ist auch kein ganz billiges Vergnügen, denn das Kilo kostet bei uns im Feinkosthandel gut und gerne 80 Euro oder mehr.
Dass es hierzulande überhaupt frische Ohrmuscheln zu kaufen gibt, ist weitgehend das Verdienst eines ebenso knorrigen wie sturen Meeresbiologen aus der Bretagne. Sylvain Huchette, Enkel eines Großbauern aus Flandern, arbeitete als Agro-Ingenieur in China, Bangladesch und später in Australien. Dort lernte der die Abalone kennen und schätzen, die dort und in Japan häufig in Aquakulturen gezüchtet wird. Daheim in Frankreich dachte er darüber nach, wie man die empfindlichen Tiere vielleicht auch in den kälteren Gewässern der Atlantikküste gedeihen lassen könnte. Er pachtete eine alte, aufgelassene Austernbank und begann, umgebaute Hühnerkäfige als Zuchtboxen für seine kostbaren Ohrenmuscheln umzurüsten. Die winzigen Larven, die nur unter dem Mikroskop zu sehen sind, wachsen an Land in überdachten Zuchtbecken heran, bevor sie in einem tiefen Meeresarm in der Gegen von Nord-Finistère im flachen, sauerstoffreichen Wasser in bis zu hundert gut vertäuten Kisten ausgesetzt werden. Die Gegend ist ideal geeignet, denn erstens bleibt die Wassertemperatur hier meistens recht konstant, und zweitens wächst hier die rote Meeresalge Palmaria palmata, die Hauptnahrungsquelle der Abalone. Deshalb muss Huchette kein Fischmehl verfüttern, wie es bei den Züchtern in Fernost meist der Fall ist, was dem Geschmack zugutekommt.
Inzwischen hat der Franzose Nachahmer in der Gegen gefunden, und auch in den Austerngärten von La Rochelle gehen immer mehr Meeresbauern dazu über, ihre Produktion auf den „Trüffel des Meeres“ umzustellen. Ob sie dazu erst einen Pakt mit dem Wind schließen oder gar ernste Drohungen gegen Himmel richten müssen, ist nicht bekannt. Von den Nootka-Indianern ist dagegen ein Geheimtipp für die Zubereitung überliefert: Sie streicheln dem noch lebenden Tier zärtlich über den Bauch – durch die Massage wird das Fleisch angeblich besonders zart. Und sie sollten es schließlich wohl am besten wissen…