Wenn im Wilden Westen den Leuten etwas nicht passte, dann kamen sie meistens zusammen und taten etwas dagegen. Wen hätten sie ja auch sonst fragen sollen? Außer dem Sherif in der nächsten größeren Stadt oder vielleicht einem durchreisenden Bundesmarshall war vom langen Arm des Gesetzes in den weiten der Prärie oder in den engen Seitentälern der Rockies ja nichts zu spüren. Hilfe zur Selbsthilfe war angesagt.
Dafür hielten die Siedler meist zusammen. Nur wenn sich alle im Trek zu einer Wagenburg zusammenschlossen, konnten sie die Angriffe der Indianer abwehren. Und wenn ein Farmer eine neue Scheune brauchte, kamen alle aus der Umgebung zusammen. Am Abend stand das Ding, und das Feiern konnte losgehen! Solidarität und Sozietät waren Werte, die entscheidend dazu beigetragen haben, dass der Wilde Westen gezähmt wurde.
In den Weiten des Web sind diese Werte über weite Strecken verloren gegangen. Stattdessen sitzen wir als Gefangene in unseren Filterblasen, vereinsamen als digitale Egozentriker, weil die Sozialen Netze uns unsere Bedürfnisse nach Bestätigung und Rechthaben extensiv befriedigen – denn nur so können sie sicher sein, dass wir ihnen möglichst lange und intensiv zuhören.
„Was als Wettlauf um die Monetarisierung unserer Aufmerksamkeit begonnen habe, greife inzwischen das Fundament der Gesellschaft an: geistige Gesundheit, Demokratie, soziale Beziehungen und – unsere Kinder.“ Das schreiben die Macher von humanetech.com, eine von ehemaligen GAFA-Mitarbeitern und Investoren gegründete Bürgerrechtsorganisation, die versuchen, die Macht der Internet-Konzerne zu brechen und ein Prinzip, dass sie „humanes Design“ nennen, durchzusetzen.
Ihr wichtigster Baustein heißt „Cultural Awaking“. Dieses kulturelle Erwachen zielt darauf ab, Verbrauchern und Bürgern die Kontrolle über ihr Leben zurückzugeben, indem man ihnen bessere Werkzeuge zur Verfügung stellt, sie ihre Gewohnheiten ändern lässt und ihnen Anregungen gibt, ihre Erwartungen an Technologie neu zu definieren. Der erste Schritt? Solidarität und Sozialität!
Heute verwandele der Bildnachrichtendienst Snapchat Gespräche in endlose Schleifen und bestimme, wie Kinder Freundschaft definieren. Instagram verherrliche ein schöngefärbtes Bilderbuch-Leben und schade damit dem Selbstwertgefühl derjenigen, die diesem Ideal nicht entsprechen, nicht entsprechen können. Facebook sperre seine Nutzer in Echo-Kammern und Filterblasen ein und zerlege so die Gemeinschaft. Youtube spiele innerhalb von Sekunden das nächste Video ab, um uns den Schlaf zu rauben. Das alles sei Teil eines Systems, das nur einem Zweck diene: uns abhängig zu machen.
Internet und Mobiltelefone machen süchtig, das predigten Soziologen und Psychologen schon in den 90er Jahren. Um wieviel größer ist das Suchtpotenzial eines „always on“ World Wide Web und eines Smartphones?
Es ist wichtig für uns zu erkennen, dass Google, Amazon, Facebook und Apple nur unser Bestes wollen – und davon so viel wie möglich. „Google handelt nicht in unserem besten Interesse“, schreibt Johnathan Taplin, der ehemalige Direktor des Annenberg Innovation Lab an der University of Southern California und Autor des Buchs Move Fast and Break Things: How Facebook, Google, and Amazon Cornered Culture and Undermined Democracy. Die dunkle Seite der Macht von GAFA & Co. reiche weit über das Silicon Valley hinaus und äußere sich zum Beispiel in ihrer fehlenden Bereitschaft, Dinge wie Fake News und den weitverbreiteten Sexismus in ihrer eigenen Branche zu bekämpfen. So war Google nur nach langem Zögern bereit zuzugeben, dass der Frauenanteil unter den technischen Mitarbeitern lediglich 17 Prozent beträgt.
Taplkin beklagt die „Bro Culture“ in der von Männern dominierten Tech-Welt und die „Geiz-ist geil“-Mentalität der großen Internet-Konzerne, die zwar Quartal um Quartal Rekordgewinne scheffeln, ihre Kunden aber mit ein paar Brosamen in Form von suchtbildenden Apps und Anwendungen abspeisen. „Wir wissen, dass wir von ihnen in eine Zukunft getrieben werden, in denen es ihnen besser gehen wird. Was wir nicht wissen ist, ob sie auch für uns besser sein wird“, schreibt Taplin, und weiter: „Indem wir Netzwerken wie Google und Facebook die Kontrolle über unsere Gegenwart übertragen, geben wir die Freiheit auf, über unsere Zukunft zu bestimmen.“
Wieso haben wir, die vielzitierten „Netizens“, immer mehr das Gefühl, alleine gelassen zu werden und aus der Diskussion darüber ausgeschlossen zu sein, wie es mit uns weitergehen soll?
Es wird langsam Zeit, etwas dagegen zu tun.
In seinem Buch Technology vs. Humanity beschreibt Gerd Leonhard etwas, das er „digitale Fettsucht“ (digital obesity) nennt. Er definiert sie als einen geistig-körperlichen Zustand, bei dem Daten, Informationen, Medien und allgemeines digitales Verbundensein (Connectivity) ein Ausmaß annehmen, das mit Sicherheit schädlich für unsere Gesundheit, unser Wohlbefinden, unser Glücksempfinden und für unser Leben ganz allgemein ist. Und so, wie es weltweit wenig Unterstützung gibt für eine strengere Regulierung einer Lebensmittelindustrie, die immer noch suchtbildende chemische Zusätze verwendet und Werbekampagnen finanziert, die zum ständigen Überfressen aufrufen, so stossen Forderungen danach, eine Branche einzubremsen, deren Ziel es ist, uns mit Konnektivität und Nonstop-Ablenkung anzufixen, ebenfalls auf wenig Unterstützung von oben.
Wir werden das schon selber in die Hand nehmen müssen.