Dem einen sein Hasspost ist dem anderen eine simple Meinungsäußerung. Diese Diskussion entzweit die Menschheit, seit unsere ersten Urahnen von den Bäumen herabgestiegen sind und den aufrechten Gang geübt haben. In den Zeiten von Kaisern und Königen wurde sowas meistens rasch entschieden: „L’état c’est moi!“ hat Louis XIV zwar nie wirklich gesagt, aber wenn er ein Machtwort sprach, hatten alle anderen die Schnauze zu halten.
Mit den bürgerlichen Revolutionen des 19ten Jahrhunderts und dem Aufkommen liberaler Demokratien wurde die Macht des Staates, den Menschen vorzuschreiben, was sie denken dürfen, infrage gestellt. „Sire, gebt uns Gedankenfreiheit!“, lässt Schiller 1787 seinen Don Carlos ausrufen. Und zwei Jahre später wurde Meinungsfreiheit im Zuge der Französischen Revolution als „un des droits les plus précieux de l’Homme“ (deutsch: „eines der kostbarsten Rechte des Menschen“) in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aufgenommen. Voltaire wird der starke Satz zugesprochen: „Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde bis auf den Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.“ Pech nur, dass der Spruch in Wahrheit von Evelyn Beatrice Hall stammt, die es dem großen Vordenker der Aufklärung 1906 in den Mund gelegt hat.
Das Recht, seine Meinung frei zu äußern, wird in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt. In den USA wird sie traditionell sehr weit ausgelegt und schützt teilweise auch Äußerungen, die anderswo als Anstiftung zu Straftaten oder als Volksverhetzung eingestuft würden. Nach gängiger Rechtsauffassung schützt der 1. Verfassungzusatz das Recht, unwahre Tatsachenbehauptungen aufzustellen. Dem Gesetzgeber wird darin ausdrücklich verboten, die Rede- und Pressefreiheit einzuschränken. Das deutsche Grundgesetz dagegen legt ausdrücklich fest, dass die Meinungsfreiheit durch die „allgemeinen Gesetze“ eingeschränkt ist. Das ist ein fundamentaler Unterschied.
Im Zeitalter von Social Media spitzt sich dieser Streit immer mehr zu. Facebook beispielsweise beschäftigt über 600 Mitarbeiter einer Bertelsmann-Tochter in Berlin, die nichts anderes zu tun haben als Posts, die gegen die firmeninternen Regeln verstoßen, zu löschen. Doch was genau diese Regeln sind, das behält Facebook für sich. Rein juristisch ist klar: Facebook muss zumindest in Europa Postings, die Rechte anderer verletzen oder gegen Strafvorschriften verstoßen, unverzüglich löschen. Der früheren österreichischen Grünen-Chefin Eva Glawischnig geht das nicht weit genug. Sie hat Facebook vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verklagt und verlangt, dass Posts, in dem sie im Zusammenhang mit der Flüchtlingspolitik unter anderem als „miese Volksverräterin“ verunglimpft wird, weltweit gelöscht werden. Doch damit wäre Facebook im Amerika vermutlich einer Klagewelle ausgesetzt von Usern, die sich auf den „First Amendment“ berufen – und dort wahrscheinlich vor Gericht obsiegen werden.
Vermutlich werden wir ohnehin unser Verständnis von der Rolle der sozialen Medien demnächst neu denken müssen. Bislang gehört das Twittern und Posten ja nach landläufigem Verständnis eher in den Privatbereich. Doch was ist, wenn ein Politiker per Tweet regiert wie Donald Trump, dessen Twitter-Konto @realDonaldTrump von mehr als 62 Millionen Menschen verfolgt wird – darunter auch Minister und Beamte seiner Administration, denen er häufig auf diesem Weg direkte und öffentliche Dienstanweisungen im Kurznachrichtenformat gibt. Kürzlich war das wieder so, als der Supreme Court seiner Regierung verbot, eine Frage nach der Staatsangehörigkeit in den Fragebogen der anstehenden Volkszählung aufzunehmen. Die zuständigen Beamten erklärten daraufhin gegenüber den hohen Richtern, sich brav an die Anweisung halten zu wollen, doch Trump pfiff sie per Twitter zurück: „Wir machen absolut weiter!“
Das hat nichts mit privater Online-Plauderei zu tun, das ist dienstlich! Das fand jetzt auch ein Bundesrichter in New York, der laut New York Times am Dienstag entschied, dass Trumps Tweets öffentliches Eigentum sind. Der Tweeter-in-chief hatte nämlich Leute, die es gewagt hatten, seinen Online-Botschaften zu widersprechen oder ihn zu kritisieren, kurzerhand ausgesperrt. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang, oder? Alle Social Media Plattformen bieten auf die eine oder andere Weise eine Blockadefunktion gegen unliebsame oder nervende Zeitgenossen an.
Das Urteil zeigt eindeutig, dass Twitter & Co. inzwischen erwachsen geworden und deshalb ernst zu nehmen sind. Angela Merkel hat ja auch gerade ihre Konten gelöscht, und zwar mit der Begründung, dass sie jetzt nicht mehr CDU-Chefin ist. Damit hat sie zugegeben, dass Facebook für sie ein offizielles Werkzeug ihrer Regierungsarbeit gewesen ist und kein Privatvergnügen – den hatte die wenig internet-affine Bundeskanzlerin („Das Internet ist für uns alle Neuland!“) ja ohnehin nie.
Das Recht der freien Meinungsäußerung im Internet ist ein kostbares Gut. Wenn jetzt hektisch und von allen mehr oder weniger kompetenten Seiten versucht wird, „Ordnung“ im sozialen Netz zu schaffen, kann es sein, dass wir einen Grundpfeiler unserer freiheitlich liberalen Demokratie zum Einsturz bringen. Wenn es um ein solches „droits les plus précieux“ geht, ist der Hausverstand gefragt.