In Indien existiert die Leibeigenschaft offiziell seit 1843 nicht mehr, aber inoffiziell ist sie allgegenwärtig.
Vielleicht war es die Aja, das dicklich-gemütliche indische Kindermädchen, die in Delhi am Hotelpool auf zwei kreischende Buben aufpasste,, die mich auf den Gedanken gebracht hat. Die Mutter, eine offenbar wohlhabende und westlich geprägte Inderin, saß zehn Meter daneben im schicken Badeanzug, ließ sich vom Hotelboy ab und zu etwas Kühles reichen, las ein Buch und schaute während ich da war nicht ein einziges Mal zu ihrer Brut hinüber. Für sowas hat man schließlich seine Leute. Irgendwann wickelte die Aja die beiden Knaben in dicke Handtücher und verschwand mit ihnen in Richtung Hotelzimmer. Mama sprach kein Wort, sondern blätterte weiter. Irgendwann sammelte auch ich meine Sachen und machte mich davon.
Ein paar Tage später in Agra musste ich wieder an die Memsahib und ihre Aja denken beim Anblick dieses Schildes, das an der Wand neben dem Eingang zum Schwimmbad hing. Neben allerlei Ge- und Verbote sind es vor allem zwei, die meine Aufmerksamkeit erregten, zumal sie direkt nebeneinander stehen. „Servants … not allowed“ und „pets not allowed“. Zu deutsch ist der Zutritt also für Diener und Haustieren gleichermaßen untersagt. Und irgendwie stehen beide in den Augen des Schildermachers mehr oder weniger auf einer Stufe. Na gut, die Bediensteten kommen zuerst, wenigstens das.
Meine erste Reaktion, und Ihre vermutlich auch, ist: „Ja, in was für einem Land leben die denn?“ Die einfache Antwort lautet: Indien. Aber in Wirklichkeit ist die Sache sehr viel komplizierter.
Aufgeklärte Inder verweisen oft und gerne auf die wirtschaftlichen, aber auch auf die sozialen Fortschritte, die ihr Land seit der Unabhängigkeit 1948 und vor allem in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren erzielt hat. Dazu zählt die Abschaffung (oder wenigstens die weitgehende Aufweichung) des starren Kastensystems und die „Befreiung“ der einstigen Unberührbaren, die „Dalits“. „Es gibt keine Dalits mehr in Indien“, behauptete vor ein paar Tagen etwas kühn Pritti, meine indische Freundin mit amerikanischem Pass.
Mag sein. Aber je länger ich in diesem Land weile, desto klarer wird mir, dass es immer noch eine sehr subtile, aber nicht minder wirkungsvolle Form von Leibeigenschaft gibt. Vielleicht wäre „Sklaverei 2.0“ dafür der bessere Ausdruck.
Sie findet in den Städten statt, wo einem Bericht der „Times of India“ zufolge die Zahl der Frauen, die zur Prostitution gezwungen werden, im letzten Jahr offiziell um 40 Prozent gestiegen sein soll.
Sie ist in den Teppichwebereien Nordindiens allgegenwärtig, wo Menschrechtsorganisationen die Zahl der in die Zwangsarbeit verkauften Kinder bei über 300.000 liegen soll.
Und sie ist in den fruchtbaren Äckern von Ost-Godiwari offensichtlich, wo Millionen von armen Bauern ihre Reisfeld oder Fischteich von einem der vielen Großgrundbesitzer, den „landlords“.
Ich habe auf meiner Reise mehrerer dieser Latifundienbesitzer kennen gelernt. Einer von ihnen , Vinod Rangaraju aus Juvvallapalam,ein Dorf mit 3500 Seelen, ist gerade 40 Jahre alt. Er hat von seinem Vater mehrere Hundert Farm-Parzellen geerbt, die er an Kleinbauern verpachtet. Von den Erlösen lebt er. Einen Teil davon steckt er in die dörfliche Infrastruktur zurück, fördert Gesundheitsprojekte, lässt Brunnen graben. Dafür feiern sie ihn in der ganzen Region als einen großen Wohltäter. Das ist er sicher auch, aber er ist zugleich Herr über Wohl und Wehe Tauender von Menschen. Ein Radikaler würde ihn einen Schmarotzer nennen.
Beim Bürgermeister von Jakkram, wo laut letzter Volkszählung genau 2017 Menschen wohnen sollen, könnte diese unschmeichelhafte Beschreibung schon eher zutreffen. Wobei ich eigentlich nichts über ihn sagen sollt, den ich war sein Gast und habe sein Brot gegessen. Aber ich habe es in einer Umgebung getan, die inmitten der ärmlichen Godiwari-Region so unwirklich schien wie ein Zauberpalast aus Tausendundeiner Nacht: Seine Villa liegt etwas versteckt hinter einem Palmenwäldchen. Die Eingangsstufen sind aus weißem Marmor, die Tür aus Ebenholz und ist mit einer kunstvoll geschnitzten, fast lebensgroßen Vishnu-Figur verziert. Er führte uns wortlos durch ein riesiges, mit Ledersofas ausgestattetes Wohnzimmer ein Treppe hoch zur Galerie und durch eine tür in sein vollklimatisiertes Heimkino – ein Raum von vielleicht 30 Quadratmetern mit Großleinwand, Projektor, Surround-Anlage und Stereosystem. Wir nahmen dort in dicken Ledersesseln Platz, der Gastgeber ließ eine Flasche feinsten schottischen Whisky kreisen oder wahlw
eise einen wunderbaren Bordeaux grand cru, Jahrgang 1999.
Am nächsten Morgen erzählte uns ein Entwicklungshelfer, der Bürgermeister sei deshalb Bürgermeister, weil ihm das gesamte Dorf gehöre. Nein, nicht die Menschen, aber der Grund. Wer ihn nicht wähle, der könne am nächsten Tag seine Siebensachen packen und schauen, wo er bleibt. Jeder Bauer muss einen Teil seiner Erträge an ihn abführen. „So zwischen 25 und 30 Prozent“, schätzte unser Informant, der ungenannt bleiben wollte. Auch für ihn könnte es nämlich unangenehm werden, wenn der Big Boss ihn auf den Kiecker bekäme.
Der indische Soziologe Gyan Prakash vertritt behauptet, die Abschaffung der Sklaverei durch die Briten im Jahr 1843 habe das Gegenteil bewirkt: Die „Kamias“, die armen Landarbeiter, seien dadurch in ein absolutes wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis zum Landbesitzer (Malik) geraten, die fast an Feudalismus erinnert. Er zitiert dazu die weitbereitete Tradition des „Kamiauti“. Bei dem der Landlord dem Sohn seines Pächter zur Hochzeit ein Geschenk in Form von Getreide, Geld oder ein kleines Stück Land. „Diese Beziehung ist als abhängige Bindung strukturiert zwischen dem Landbesitzer als großzügiger Patron und dem Pächter als sein abhängiges Subjekt“, schreibt Gyan.
Die Abhängigkeit dauert angeblich lebenslang und ist vererbbar. Außerdem nimmt sie bei jeder Missernte zu, denn da muss sich der Kamai bei seinem Malik noch tiefer verschulden, um Saatgut oder Fischlarven kaufen zu können, von denen seine nächste Ernte abhängt. Bis zu 40 Million Menschen, so schätzt Gyan, müssen ihr Leben lang schuften um Schulden zurückzuzahlen, die Familien schon seit Generationen mit sich schleppen.
Auch das ist Indien. Ich sage das erst mal wertfrei, den ich bin, wie gesagt, ein Gast in diesem Land. Ich frage mich allerdings schon, wie solche Zustände weiterexistieren können, erst recht nachdem das Land jahrzehntelang von einer eher sozialistisch orientierten Regierung geführt wurde. Wenn das ein Teil des vielzitierten „indischen Mysteriums“ ist, dann ist es zumindest nicht das schönste.
Die Aja in Delhi mag sich nicht auf die gleiche Stufe gestellt fühlen wie ein Haustier, und die Leibeigenschaft mag de jure in Indien verboten sein. Ich kann aber nicht umhin, mir angesichts von so viel sozialem Sprengstoff Sorgen darüber zu machen, was wohl aus Indien werden wird, denn der wirtschaftliche Wohlstand weiter so wächst wie in den letzten Jahren, die Sozialreformen aber weiter hinterher hinken. Es hat andernorts aus weit nichtigerem Gründen blutige Revolutionen gegeben.