Wird das Metaverse das neue Internet, oder wird es ein Flop wie Second Life? Das ist weit mehr als eine akademische Frage unter Nerds, denn es geht dabei um Geld – sehr viel Geld. Allein im vergangenen Quartal verbuchte die Sparte Reality Labs, in der am Metaverse gearbeitet wird, einen operativen Verlust von knapp 3,7 Milliarden Dollar (aktuell 3,67 Mrd Euro). Seit Jahresbeginn sammelte sich ein Fehlbetrag von 9,4 Milliarden Dollar an – bei einem Umsatz von 1,4 Milliarden Dollar in dem Bereich.
Hat sich Mike Zuckerberg also gewaltig verspekuliert, als er seine Firma Facebook in Meta umbenannte? Nein, sagen Dr. Thomas R. Köhler und Julia Finkeisen in ihrem neuen Buch, „Chefsache Metaverse“ – im Gegenteil! Das Metaverse habe das Zeugs zum „Next Big Thing“. Zusammen mit Blockchain, Kryptowährungen, NFTs (Non-Fungible Tokens) und anderen Technologien bildet es das Herzstück dessen, was die Autoren als „Web 3.0“ bezeichnen, und die werde die Art und Weise, wie wir kommunizieren, miteinander interagieren und schlussendlich auch leben dramatisch verändern.
Doch Zweifel sind angesagt. Wie die Autoren zugeben haben 74 Prozent der Befragten in Deutschland 2022 noch nie vom Metaverse gehör. Nur drei Prozent konnten – nach eigenen Angaben – gut erklären, was man darunter überhaupt versteht. „Irgendwas mit Virtual Reality“ wäre vermutlich alles, was die Mehrheit der Deutschen zu diesem Thema aktuell zu sagen hätten.
Dabei ist das Metaverse gar nicht so neu. Der Begriff wurde 1992 in Neal Stephensons Science-Fiction-Roman Snow Crash geprägt, in dem Menschen als programmierbare Avatare miteinander und Software-Agenten in einem dreidimensionalen virtuellen Raum interagieren, der die Metapher der realen Welt verwendet.
Die bestmögliche Kombination von physischer und virtueller Welt, so seine Anhänger, werde uns ein Leben in der Welt hinter dem Bildschirm ermöglichen. Wir werden in Zukunft unsere Kunden zum Meeting in einem virtuellen Showroom einladen und sie dort alles alleine besichtigen. Virtuelle Veranstaltungen, Ausstellungen und Marktplätze werden uns zusammenbringen, ohne dass wir von unserem Bürostuhl aufstehen müssen. Hybride Arbeitsplätze werden die Vorteile von Remote-Arbeit im Homeoffice und mobiler Arbeit mit regelmäßigen Besuchen im Unternehmensbüro, um die Zusammenarbeit mit anderen zu ermöglichen, ermöglichen. Vom Schreibtisch aus lassen sich Verkaufsmeetings und Produktpräsentationen durchführen. Digitale Zwillinge werden als virtuelle Abbildung eines Objekts oder eines Systems zusammen mit Echtzeit–Simulation und maschinelles Lernen in Unternehmen die Entscheidungsfindung revolutionieren.
Schöne neue Welt, also? Auch wenn Köhler und Finkeisen sich deutlich zurückhalten, um nicht in den Verdacht zu geraten, nur gebetsmühlenartig den Hype ums Metaverse zu schüren, scheinen sie dennoch überzeugt zu sein, dass sich hier tatsächlich etwas ganz Großes zusammenbraut.
Da aber deutschen Managern wohl noch die Vorstellungskraft fehlt, sich konkrete Lösungen fürs Metaverse im Unternehmensalltag einfallen zu lassen, wollen die am liebsten den Hund zum Jagen tragen. Während sich ihr Buch nach meiner des Schreibers dieser Rezension viel zu lange mit Begriffsbestimmung und Rückblick aufhalten, wird es so ab der Hälfte richtig konkret – und interessant. Da nämlich, wo es um konkrete Anwendungsfelder in einzelnen Unternehmensbereichen geht. Ob im Handel, im Finanzbereich, in der Produktion, in Logistik und Vertrieb, in der Auto- oder Spielwarenbranche, in Reisen und Tourismus: Überall ist Wunderland! Sogar Kirche und Kunstszene bekommen ihre Portion virtuelle Realität ab, ganz zu schweigen von Sex und Dating. Kein Bereich werde verschont bleiben, glauben die Schreiber. Und sie gehen auch ans Eingemachte.
Beispiel Handel: Zwar halten sich zwar deutsche Einzelhändler noch bedeckt, aber Luxusmarken wie Gucci , Louis Vuitton oder Dior seien schon kräftig dabei. Gucci hqb3e eine virtuelle Handtasche auf der Plattform Roblox für 4.100 Dollar verkauft, und Louis Vuitton hat zum 200sten Geburtstag des Firmengründers ein virtuelles Spiel mit Quizfragen, Preisen und Überraschungen ins Netz gestellt, das vor allem junge Kunden anlocken soll. Das japanische Unternehmen ZoZo habe eine Technologie entwickelt, mit der Kunden zu Hause ein bis auf wenig e Millimeter genaues 3D-Modell ihres Körpers erstellen können, der die Basis bietet für einen zukünftigen Shopping-Avatar, der vom Faltenwurf bis zum Sitz der Ärmel eines T-Shirts alles detailliert visualisieren kann – perfekter digitaler Passform, also.
Ansonsten aber ist die Ausbeute an konkreten Anwendungen für Metaverse im Handel recht dürftig – klar, denn der Handel steht noch ganz am Anfang. Da müssen die Autoren schon auf ältere Beispiel wie Ikeas aus dem Jahr 2022 zurückgreifen, etwa wo man dank Augmented Reality (AR) seine eigenen Möbel auf einem hochgeladenen Foto ausradieren und durch Modelle des schwedischen Möbelriesen ersetzen kann.
Beim Thema Fertigungsindustrie ersetzen sie das Thema Metaverse kurzerhand mit Digitalen Zwillingen – auch nicht gerade neu, wie sie selbst zugeben. Über die Simulation technischer Anlagen bis hin zu ganzen Fabriken wird nun schon seit geraumer Zeit meist geredet, seltener gehandelt. Wenn, dann geht es meistens um Wartung oder Früherkennung, etwa da, wo der Digital Twin Fehler rechtzeitig erkennen kann, noch bevor es zum Ausfall kommt. Gar nicht eingegangen wird in dem Buch auf das durchaus spannende Thema „Human Digital Twins“, wo der Mensch Teil der Simulation wird, womöglich mittels Feedback-Schleife, die es beispielsweise Medizinern ermöglichen könnte, Krankheiten nicht nur zu erkennen, sondern gleich noch zu behandeln. Aber dazu müssen wir wohl erst die nächste Auflage abwarten.
Wo die Autoren mit ihrem Wissen richtig glänzen können, ist beim Thema Ausbildung und Training. In der Tat gibt es da konkrete Erfolgsstories zu erzählen, etwa das Beispiel des US-Engineering-Dienstleisters Honeywell, wo erfahrene Mitarbeiter mittels Mixed-Reality-Headsets mit jungen Kollegen zusammengeschaltet werden, um ihre Erfahrung aus der Ferne weiterzugeben, oder die Züricher Polizei, die angeblich schon 4oo Beamtinnen und Beamte ein VR-Training mit Erfolg absolviert haben. Wobei zugegeben wird, dass es sich bei diesen VR- und AR-Anwendungen im Grund nur um „Metaverse Light“ handelt. Sie zeigen aber angeblich deutlich die Demokratisierung der zugrunde liegenden Technologien sowie die Dynamik, die in diesem Thema steckt.
Reizvoll ist der Ausflug der Autoren in den Bereich Onlinedating und Cybersex. Schließlich gewinnt Online-Porno dank VR und Metaverse eine deutliche Steigerung. „Sex sells“: Die alte Devise gilt nach wie vor. Wenn die Pornobranche eine Technologie annimmt, gilt das unter Insidern als todsicheres Zeichen für deren baldigen Durchbruch. Aber auch in der Kontaktanbahnung verspricht das Metaverse die Partnerwelt zu revolutionieren. So wie das leibhaftige Speeddating sich vor allem im großstädtischen Bereich der Vermittlungsbranche einen Riesenschub gegeben habe, so könnten virtuelle Kennenlern-Events der sexuellen Interaktion im Web 3.0 eine ganz neue Qualität verleihen.
Und beim Thema Kunst kann vor allem Autorin Finkeisen aus den Vollen schöpfen. Schließlich ist sie im realen Leben Chefin der Firma Vioventi, die sich auf Moderne Kunst und NFTs im Metaverse spezialisiert hat. Vom Metaverse-Museum über virtuelle Kunst im Unternehmen schlägt sie eine breite Brücke der Anwendungen, die zum Teil bereits realisiert sind. Künstler gewinnen durch das Metaverse ganz neue Formen der Präsentation und des Direktvertriebs, Galerie werden ihr Geschäftsmodell umdenken oder anpassen müssen, behauptet sie. Expertise und Marktkenntnisse werden eine viel größere Rolle spielen, die beratende Funktion für Künstler und Sammler womöglcih zum wichtigsten Geschäftsmodell im Zeitalter von VR und NFTs avancieren. Interessant auch ihre Gedanken zum Thema „Metaverse und das Gute“, wo sie vom „Raum für Bewußtseinsbildung“ und der Erweiterung von Perspektiven beschreibt. So zitiert sie das Projekt „I Am A Man“ des Künstlers Gabe Gault, der eine große VR-Ausstellung zum Thema Black History geschaffen hat. „Was im Schaffen des Künstler und im Museumsalltag auf der Tagesordnung steht, funktioniert auch im Metaverse . Jedoch mit immens gewachsener Reichweite“, so ihre Einschätzung.
Köhler und Findeisen haben ein Buch geschrieben, dass dem Anspruch, ein Wegweiser durch Web3 zu sein, nur bedingt erfüllt. Dazu ist die Welt des Metaverse im Moment auch noch nicht wirklich reif. Außer großen Hoffnungen seiner Schöpfer und das zugegeben riesige Hype-Potenzial gibt es einfach noch nicht genügend Praxisbeispiele, an denen sich eine Unternehmer orientieren kann. Was das Buch aber vorzüglich kann ist Appetit auf mehr zu machen. Bleibt abzuwarten, was die kommenden Jahre bringen werden. Von der Antwort hängt eine Menge ab – unter anderem das Schicksal von Mark Zuckerberg und dem Unternehmen, das durch seinen neuen Namen untrennbar mit dem Metaverse verbunden ist.