Es gibt gewisse Ähnlichkeiten zwischen Jaron Lanier, der heute in Frankfurt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegen nimmt, und meinem kürzlich verstorbenen Freund und Coautoren Ossi Urchs. Ja, die Dreads – aber da hört die Ähnlichkeit nicht auf. Beide kannten sich gut, und ich habe sie in San Francisco bei einer Konferenz von Silicon Graphics zusammen erlebt, als wir uns nach einem Vortrag Jarons über die Zukunft von Virtual Reality auf ein Kaffee und ein Ratsch hingesetzt haben und uns völlig einig waren, dass die damals noch recht primitiven VR-Computer eines Tages unsere Sicht der Welt verändern würden. „Irgendwann wirst du gar nicht mehr sehen können, ob du dich in der Wirklichkeit oder in der virtuellen Realität befindest“, schwärmte Jaron damals. Und er hat ja Recht behalten, wie Ossi und ich in „Digitale Aufklärung“ geschrieben haben. Nur, dass man dazu keine zentnerschweren Indy Workstations mehr braucht: Du setzt dir einfach ein Google Glass auf, und schon verschwimmen Realität und Virtualität zu einer neuen Dimension der Wahrnehmung.
Ossi und Jaron haben sich in den letzten paar Jahren aber weit auseinander entwickelt. Ossi, der Netzwerker und Vordenker, blieb davon überzeugt, dass wir dank Internet bessere Menschen und damit Teile einer besseren Gesellschaft sein werden. Jaron sah und sieht das anders. Er glaubt im Gegensatz zu uns nicht an den Netzwerkeffekt, nämlich dass das Ergebnis größer ist als die Summe der Teile. Für ihn ist das Kollektivismus und damit nichts anderes als eine Art von Digitalem Maoismus, wie er in „You Are Not A Gadget“ schrieb. Wikipedia und die Open Source-Bewegung zerstören angeblich die Möglichkeiten für die Mittelklasse, die Erzeugung von Inhalten zu finanzieren. Und er hat Angst vor digitalen Massenbewegungen, weil sie seiner Meinung nach direkt in die „digitale Barbarei“ führen.
Es konnten also keine zwei gegensätzlicheren Menschen unter den roten Mähnen stecken. Nun, der eine wird sich heute in Frankfurt feiern lassen, der andere liegt ein paar Kilometer weiter in Offenbach in der Erde und hat das alles hinter sich. Aber just in diesem Moment bekomme ich E-Post von Nick Gerteshauser. Wir beide haben uns davor nicht gekannt, sonderen uns sozusagen über Facebook kennengelernt. Er hatte mich dort gefragt, was Ossi und ich zu Jarons neuem Buch sagen würden. Ich schrieb ihm zurück:
Lieber Nick, Ossi liegt im Sterben. Er wird dir nicht mehr antworten können – tut mir leid. Ich habe mit ihm zusammen das Buch „Digitale Aufklärung“ geschrieben, und ich kenne Jaron von früher ganz gut. Wenn du willst, können wir uns gerne austauschen.
Ich bekam daraufhin diese Antwort:
„Ich kenne Ossi aus gemeinsamen Tagen bei RTL (88- 92) damals verdiente er seine Brot als TV Regisseur. Ich quittierte das Fernsehen 1998 und verdiente in den den letzten 16 Jahren meinen Lebensunterhalt als Management-Trainier (mehr dazu unter www.nic-training.de)
Ja, ich würde gern ihr Angebot annehmen für einen Meinungsaustausch über das Buch von Jaron Lanier. Insbesondere weil mich seine Argumentation, das Internet würde Arbeitsplätze vernichten, ziemlich aufschreckte.“
Es sind seitdem einig paar Wochen vergangen, und ich hatte die Sache, ehrlich gesagt, schon wieder vergessen. Da kam am vergangenen Freitag, also just an dem Tag, als wir Ossi zu Grabe getragen haben, von ihm eine Mail mit diesem Text:
ich hab versprochen, daß ich mich wieder melde, wenn ich die Lektüre von „Digitale Aufklärung“ abgeschlossen habe. Es ist soweit. Und welche Schlüsse ich daraus ziehe, steht im Anhang.
Das kann ja alles kein Zufall sein, oder? Ossi stirbt, Jaron ist in Frankfurt, und Nick hat unsere beiden Bücher gelesen und kritisch verglichen. Dazu muss man wissen, dass Nick ein Vollprofi ist: Deutschen Journalistenschule, 3 Jahre beim „Stern“, Reporter bei Capital, Chefredakteur bei M-Magazin, Fernsehredakteur, Sendeleiter und Manager bei WDR, RTL und SAT.1. Ein Mann, also, dessen Meinung man getrost besonders ernst nehmen kann.
Ich habe das getan und ihn gefragt, ob er etwas dagegen hätte, wenn ich seinen Text hier veröffentlichen würde. In der Hoffnung, dass damit die Diskussion um Ossis und mein Buch wieder etwas Auftrieb bekommt. Ich halte „Digitale Aufklärung“ nach wie vor für ein wichtiges Buch, und ich bin stolz und froh, dass Ossi und ich es zu Ende schreiben konnten – trotz seiner Krankheit, von der er während des Schreibens erfuhr und die fast das Projekt zum Scheitern gebracht hätte. So bleibt es als sein Vermächtnis zurück, und gerade Ossi wäre der Erste gewesen, der sich eine kritische, wenn auch posthume Auseinandersetzung damit gewünscht hätte. Dass er nicht mehr antworten kann, ist schade, aber vielleicht können das ja andere für ihn tun.
Lieber Tim Cole,
Daß der Hanser Verlag die Zusammenstellung Eurer Beobachtungen, Thesen und Theorien (verknüpft mit vielfältigen Quellen), als Buch veröffentlichte, ist löblich. Viel Neues erfuhr ich in der ersten Hälfte nicht. Aber ihr schreibt ja selbst, wie schnell im digitalen Zeitalter (Fach-)Wissen zu Allgemeingut wird.
Ab Seite 157 las ich Euer Buch dann mit gesteigertem Interesse. Dabei viel mir auf, daß ihr Jaron Lanier auf Seite 80/81 des „schwadronieren“ zeiht, später, auf Seite 181, als „Vordenker der virtuellen Realität zitiert. Das ist zwar kein Gegensatz, aber gut zusammen paßt es auch nicht.
Auf Seite 145 schreibt ihr: „Die Auswirkungen (von Digitalisierung und Vernetzung) werden ähnlich desruptiv sein, wie in anderen Branchen, die bereits die volle Wucht der digitalen Revolution verspürt haben, wie Musikindustrie, die Filmbranche, Verlage, Buchhändler, Fotografen und viele viele andere.
Die Folgen dieser mit „disruptiver Wucht“ angekündigten Veränderung, nämlich Arbeitslosigkeit für viele Selbständige und heute mittelständische Berufe, beschreibt Jaron Lanier sehr eindrucksvoll auf den ersten 160 Seiten seines Buches „Wem gehört die Zukunft“. (Verlag Hoffmann & Campe) Weshalb Lanier vorschlägt, daß Informationen wohl frei (zugänglich) aber nicht umsonst zur Verfügung gestellt werden sollten.
In diesem Sinn ist seine Aussage (in Eurem Buch auf Seite 182 zitiert) „wir haben uns selber geschwächt“ erst richtig zu verstehen. Programmierer wie er haben sich in den Anfangsjahren von Silicon Valley mehr auf Quellcodes denn auf Dateien und deren Urheberrecht konzentriert. Eine Einstellung, die er heute schmerzlich bedauert. Das muß man wissen um zu verstehen, warum ihr ihn als Mann hinstellt, der sich vom Saulus zum Paulus gewandelt hat
In seinem Buch gesteht Lanier bereitwillig, dass es problematisch wäre, heute zu versuchen die kostenfreie Methode „copy/paste“ abzuschaffen. Gleichwohl liegt da der Schlüssel – wäre das Internet so eingerichtet worden, dass wer immer eine Seite besucht, der Seitenautor darüber Meldung bekommt, wer ihn besucht. So schöpft Google (kostenlos) unsere Daten ab und verhökert sie höchst profitabel als sorgsam gefilterte Zielgruppe weiter.
Dabei wäre das Geschäftsmodell von Google weitaus fairer, würde uns der Internetgigant für die Nutzung der erfaßten Daten bezahlen, ohne die er sein Geschäft gar nicht betreiben kann!
So finden ich Eure Einstellung zum Urheberrechtsgesetz sehr diskussionswürdig. Ja, Frauen fallen (wie ihr schön schreibt) heute nicht mehr unter das Eigentumsrecht von Männern. Und ich setze hinzu, wir können gewiß sein, daß sie alles tun werden, ihre erkämpften Persönlichkeitsrechte nicht wieder abzugeben. Im Gegenteil, das sogenannte schwache Geschlecht wird weiter erstarken und seine Rechte weiter entwickeln!
Ähnlich sehe ich es mit Urheberrechtsgesetz (S.188) – dessen Vorgeschichte mir bislang unbekannt war – auch es muß und wird weiterentwickelt werden. Sicher, Bites und Bytes sind keine Sache. Das Urheberrechtsgesetz schützt ja auch nicht die Tinte, womit noch vor nicht allzu langer Zeit Texte zu Papier gebracht wurden. Und Originalität ist kein Mythos sondern reale Qualität. Auch wenn es zu Einsteins Relativitätstheorie Vordenker gab und, wie ich in einer Biographie las, seine erste Frau Anteil an seinen ersten Formulierungsversuchen gehabt haben soll, A.E. gebührt Ruhm, Ehre und Urheberschaft.
Köstlich zu lesen, die sehr gelungene Beschreibung wie Journalisten arbeiten und der Vergleich mit Lagerfeuer-Geschichtenerzählern (S.193). Das bekennen ausgerechnet zwei ehemalige Playboyjournalisten!
George Dyson und sein Buch „Turings Kathedrale“ kannte ich bisher nicht (Seite 217). Ich finde seine Formulierungen sehr klug. Im Übrigen teile ich Eure Überlegungen zur Piraten-partei. Die (noch) bestehenden Parteien werden sich mächtig wandeln müssen, wollen sie langfristig an der politischen Willensbildung in diesem Land beteiligt bleiben.
Schließlich wurde mir auf Seite 238 endgültig klar, warum ihr beide mit den Vorschlägen von Jaron Lanier zur Weiterentwicklung des Internets nicht einverstanden sein könnt.
Zum Thema Multitasking und Beschleunigung empfehle ich das Buch von Hartmut Rosa „Beschleunigung – die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderene“ (dtv Verlag). Es enthält neben viel sozialpsycholo-gischem Kauderwelsch eine gut lesbare Zusammen-fassung (Seite 460-489). Die Quintessenz findest Du auf Seite 470. Da stellt er fest: „Wir leben in einer ereignis-reichen Zeit (weil wir dank digitalen Medien in kurzen Zeitintervallen viele verschiedene Informationen aufnehmen können) und zugleich in einer erfahrungsarmen Zeit“ (weil wir nicht mehr die Zeit haben, aus Informationen Erfahrungen (Wissen) zu destillieren.
„Die Erlebnisse bleiben episodisch, sie werden nicht mehr miteinander und mit der Geschichte der eigenen Identität verknüpft. Das Kurz-Kurz-Muster der Zeitwahrnehmung (d.h. rasch vergehende Erlebniszeit und rasch verlöschende Erinnerungsspuren) erzeugt dekontextuierte, wechselseitig zusammenhanglose aber stimulationsreiche Erlebnissequenzen wodurch die Transformation in genuine Erfahrung verhindert wird.“
Nun habe ich mir viel Zeit für die Stellungnahme zu Eurem Buch genommen. Bedenkt man allerdings, daß ihr zwanzig Jahre für die „Geburt“ des Werkes gebraucht habt, war es doch nur ein kurzer Zeitintervall.
Gute Grüße
Nick
Köln 11.Oktober 2014
7 Antworten auf Saulus, Paulus und die disruptive Wucht des Internets