Zwei Zeitungsberichte haben mich heute beschäftigt, obwohl sie scheinbar nichts miteinander zu tun haben.
Unter der Headline „Volksparteien im freien Fall“ untersucht die Online-Ausgabe der Welt die nicht nur für Genossen fatale Tatsache, dass die CDU erstmals die SPD in der Mitgliederzahl überholt hat. Genau genommen haben die Schwarzen nur weniger Mitglieder verloren als die Roten, aber das Ergebnis ist dennoch äußerst symbolträchtig.
Die andere stammt von der guten, alten Papierausgabe des „Economist“ und trägt die Überschrift „Unhappy America„. Es geht darin um die gegenwärtig spürbare Niedergeschlagenheit der Amerikaner, denen das Blatt eine tiefe kollektive Depression attestiert angesichts von Bankenkrise, geplatzter Immobilienblase, explodierenden Benzinpreisen und einer politischen Führung, für die das Wort „gescheitert“ noch als Schönfärberei durchgehen könnte. Bushs Umfragewerte nennt der Economist „sub-Nixonian“. Das sagt eigentlich alles.
Ein Satz im Leitartikel des, für mich jedenfalls, besten Wirtschaftsjournals der Welt, schafft die Verbindung. Und lässt nachdenken über die Zukunft des politischen Systems in Deutschland. Hier das Zitat:
„Genau wie es der amerikanische Kapitalismus Firmen erlaubt, schnell zu sterben oder gegründet zu werden, so reagiert das politische System schnell. Europäische Führer steigen langsam auf durch die Parteienhierarchien; in Amerika können inspirierende Unbekannte dank des Vorwahlsystems plötzlich aus dem Nichts heraus ins Rampenlicht der Öffentlichkeit treten.“
Wer die Rede von Barak Obama vor der Siegessäule in Berlin erlebt hat weiß, dass auch die Deutschen empfänglich sind für messianische Nobodys. Leider gibt es sie bei uns nicht. Schuld daran ist das hiesige Parteiensystem, das den Bürger wie ein kleines Kind behandelt, das zu dumm oder unerfahren ist, um selbst Entscheidungen zu treffen. Unsere Parteien verstehen sich nicht als Vertreter, sondern als Vormund des Volkes.
Das beste Beispiel: Bei der Bundestagswahl 2005 haben SPD, Gründe und Linke zusammen 51 Prozent der Stimmen erhalten und damit ein klares Mandat des „Souverän“ für eine linksgerichtete Regierung. Aber die damals noch größte „Volkspartei“ SPD glaubt es wieder einmal besser zu wissen – und geht eine „bürgerliche“ Koalition mit den Konservativen ein. Wer, bitteschön, ist bei uns das „Volk“?
In Amerika werden die Volksvertreter direkt gewählt. Jeder Bürger weiß, wer ihn in Washington vertritt. Er kann ihm einen Brief schreiben oder ihn bei der nächsten Wahlkampftournee im Heimatwahlkreis anhauen. Das heißt nicht, dass der Senator oder Kongressabgeordneter immer das tut, was der kleine Mann zu Hause will – er ist immer noch seinem Gewissen verpflichtet. In Deutschland haben die Abgeordneten das Gewissen an der Eingangstür des Bundestags abgegeben und gehorchen nur noch der „Parteiräson“.
Das ist für mich auch die Erklärung, weshalb – anders als in den USA – das Internet (Stichwort: „Politik 2.0“) nach wie vor eine verschwindende Rolle in der deutschen Politik spielt. Oder, wie es die „Süddeutsche“ im April beschrieb: „Die politische Debattenkultur ist in Deutschland bisher nicht im Internet angekommen.“ Obama dagegen scheffelt geradezu Geld über seine Website, wobei rund 94 Prozent der Einzelspenden weniger als 200 Dollar betrugen, also ganz offensichtlich von kleinen Leuten, die spontan am PC die Kreditkarte gezückt und ihr Scherflein zum Wahlkampf „ihres“ Kandidaten beigetragen haben.
Im Internet ist der Mensch gewohnt, selbstbestimmt zu handeln. Es heißt schließlich nicht umsonst „Mitmach-Internet“. Wenn sich bei uns das Mitmachen im Internet auf den Abruf von Floskeln und Bildern mehr oder weniger dem eigenen Einwirkungsbereich entzogener Parteibonzen beschränkt, dann ist es doch klar, dass die Leute lieber weitersurfen zu YouTube oder Facebook. Da gibt es wenigstens noch wirkliche Menschen und keine Politiker-Pappnasen.
Die Misere der Volksparteien in Deutschland ist eindeutig eine Misere des von den Parteien ursupierten parlamentarischen Systems in Deutschland. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, heißt es in Artikel 21. In Wahrheit läuft die Politik nur über die Parteien; das Volk hat da kaum mitzureden.
Wir brauchen weniger Parteiendemokratie in Deutschland und viel, viel mehr direkte Demokratie. Die Parteien sind die Ursache des Problems, müssten aber an ihrer Lösung mitwirken, was leider ziemlich unwahrscheinlich ist. Dennoch hier eine kurze Liste von Dingen, die meines Erachtens zu tun sind und die, jedes für sich, vielleicht sogar trotz der Bunkermentalität der Parteioberen machbar wären:
1. Direktwahl des Bundespräsidenten. Damit wäre das erbärmliche Schauspiel abgekarteter Kandidaturen nach dem Proporzsystem („..eigentlich wären wir jetzt wieder dran!“) beendet. Sollen die beiden Besten ins Rennen gehen, und möge der Bessere gewinnen!
2. Direktwahl aller Abgeordneten in Bund und Ländern. Das bedeutet die Abschaffung der unsäglichen Landeslisten, die nur dazu da sind, um Politiker durch die Hintertür ins Parlament zu hieven, die keine Chance hätten, aus eigener Kraft gewählt zu werden – und die deshalb dort auch nichts verloren haben.´!
3. Direktwahl der EU-Abgeordneten, verbunden mit einer deutlichen Ausweitung der politischen Funktion des Europaparlaments. Da Brüssel und Strassburg für den deutschen Wähler noch viel weiter weg zu sein scheinen als Berlin, der gefühlte Einfluss des einzelnen Wählers deshalb quasi Null ist, interessiert sich natürlich keiner dafür. Dabei könnte Europa den Weg in eine direktere, bürgernähere politische Zukunft weisen, denn da gibt es weniger etablierte Eigeninteressen zu überwinden.
4. Massive Ausweitung der direkten Einflussmöglichkeiten des Volkes über Plebiszite, Bürgerbegehren und Volksbefragungen, insbesondere solche, die per Internet erfolgen. Die Technik ist der Schlüssel zu einer direkteren Demokratie in Deutschland. Ja, es gibt Probleme zu lösen. Nicht jeder hat Internetzugang. Das ist lösbar, zum Beispiel durch das Aufstellen von Internet-Terminals in den Wahllokalen.
5. Der Bundestag soll das aktuell anstehende Gesetz über die Einführung des digitalen Personalausweises schleunigst ergänzen, damit jeder Bundesbürger von Staatswegen mit einer elektronischen Signatur ausgestattet wird, mit deren Hilfe er sich eindeutig und zweifelsfrei im Internet ausweisen kann. Das Rumgeeiere darum, wer die Kosten der Signatur tragen soll, hat Deutschland jetzt schon um 10 Jahre zurückgeworfen, jetzt sollte damit endlich Schluss sein: digitale Signatur ist Staatssache, punkt!
Natürlich wäre eine Grundgesetzänderung schön, insbesondere das ersatzlose Streichen von Artikel 21. Aber dass es dafür jemals die erforderliche Zweidrittelmehrheit geben wird, gehört wohl eher in den Bereich der politischen Traumtänzerei. Jedenfalls so lange die Parteien bei uns noch die Hand auf der Politik haben.