Als das Kanonenboot „Panther“ seiner Majestät, des Kaisers, 1911 als politische Geste kolonialer Machtansprüche in die verschlafene Hafenstadt an der marokkanischen Südküste eindampfte, dauerte es Wochen, bis die Nachricht davon die Welt erreichte und einen politischen Sturm entfacht, das letztlich in den Ersten Weltkrieg mündete. Wer glaubt, es habe sich seitdem etwas geändert, der irrt sich gewaltig. Kommunikationsmäßig steckt Agadir noch im frühen 20sten Jahrhundert.
Ja, ich bin unfair. Aber das Leben ist unfair, und ich bin sauer, weil ich vier Tage lang in einem 5-Sterne-Luxusschuppen, dem „Royal Atlas Hotel“, festgefangen war und nur einmal, für etwa drei Minuten, ins Internet gekommen bin. Dabei verfügt das Haus durchaus über ein modernes Drahtlosnetzwerk. Ich konnte es sogar sehen. Es schien mich tagelang auszulachen, denn wenn ich versucht habe, mich einzuwählen, vermeldete das Gerät stets brav: „Verbindung hergestellt“. Nur rührte sich in meinem Web-Browser nichts, und an mein elektronisches Postfach kam ich auch nicht ran.
Was das alles mit Frank Schirrmacher und seiner Erfindung der „digitalen Ermüdung“ zu tun hat? Nun, in den Schlusskapiteln seines Buches „Payback“ empfiehlt er ja den Perspektivenwechsel als Ausweg aus der dauernden Überforderung des Internets. Ich bin seiner Empfehlung also gefolgt und habe mich in den Flieger gesetzt, um drei Tage lang unter südlicher Sonne Golf zu spielen, und zwar auf Einladung des Königlich Marokkanischen Tourismusministeriums.
Die wollen die Region um Agadir, in der angeblich das ganze Jahr Frühling herrscht, zur neuen Algarve machen, also der Vorzugsdestination für wintermüde Mitteleuropäer mit einer Vorliebe für das Spiel mit dem weißen Ball. Was Mallorca kann, können wir schon lange, sagen sich die Nachkommen der Maghrebs.
Dass Agadir 1960 von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht und praktisch dem Erdboden gleichgemacht wurde, ist aus Sicht der Tourismusprofis eher ein Vorteil, denn so ließ sich am Rande der Atlantikküste eine richtige Retortenstadt aus dem Wüstenboden stampfen, komplett mit kilometerlangen, kerzengeraden Palmenalleen, die durch noch leere Neubaugebiete führen. Die so genannte Stadt besteht dagegen hauptsächlich aus Betonwürfeln, wahlweise für Wohnzwecke reserviert oder Heimstatt von unzähligen Billig-Restaurants, die sich wahlweise spanisch, französisch, deutsch oder italienisch geben, aber alle das gleiche miese marokkanische Touristenessen servieren. An dem „British Pub“ ist das Neonschild so ziemlich das einzig Britische. Alles andere hätte aus einem Karl-May-Roman stammen können.
Perspektivenwechsel satt, also, und ich hätte eigentlich mit gereinigtem digitalen Dankkanal nach Hause fahren können – wäre da nicht diese wichtige E-Mail gewesen, auf die ich wartete, weil daran ein Sprechertext hängen sollte, den ich übersetzen sollte, damit wir nach meiner Rückkunft am Montag ins Tonstudio gehen konnten. Also hatte ich schlechten Gewissens meinen treuen Thinkpad mit auf die Reise genommen und versuchte, mich im Hotel ins Net einzuloggen, aber vergebens, wie gesagt.
Nur einmal, für ein paar Minuten, rührte sich was im Cyberraum. Da begann sich auf einmal der kleine Querbalken rechts unten in meinem Outlook zu regen, und ein offenbar recht dünner Datenstrom begann zu fließen, denn es dauerte ewig, bis die erste von 98 wartenden Nachrichten durchkam.
Und die war ausgerechnet von Frank Schirrmacher! Und zwar von einem wütenden Frank Schirrmacher, der sich fürchterlich über meinen Verriss seines Buchs aufregt, weil ich ihn darin angeblich als Antisemiten beschimpft haben soll, indem ich seine Methode, Feindbilder aufzubauen, mit denjenigen verglich, die zwischen den Weltkriegen in Deutschland die Judenlüge erfanden, um von Wirtschaftsnot und Versailles-Schmach abzulenken. Ich finde das nach wie vor einen legitimen historischen Vergleich, zumal ich auch andere Beispiele („Dolchstoßlegende“) verwendet und ausdrücklich dazu geschrieben habe, dass ich ihn nicht für einen Nazi halte, sondern nur für jemanden, der mit Methoden arbeitet, die sich in der Propaganda (ja, auch der nazionalsozialistischen, aber eben auch vieler anderer) immer wieder bestens bewährt haben.
Mag grenzwertig sein, der Vergleich, aber wer wie Schirrmacher austeilen kann, sollte auch einstecken können. Finde ich, jedenfalls.
Aber eigentlich geht es mir hier um etwas ganz anderes, nämlich um den wirklich mehr als seltsamen Zufall. Herr Schirrmacher und seine Thesen beschäftigen mich in diesen Tagen sehr, und ich habe noch nie von ihm eine Mail bekommen. Und dann sitze ich unweit von Casablanca, und mir kommt der unsterbliche Satz von Boggie in den Kopf: Of all the gin joints in all the towns in all the world, she walks into mine.“ Tja, in der langen Warteliste der vielen Mails, die ich aufgrund meiner nicht ganz freiwilligen Entschleunigung nicht lesen konnte, drängt sich ausgerechnet der große Gegner der digitale Reizüberflutung ganz nach vorne – und kommt als Einziger durch.
Da muss doch irgendein tieferer Sinn dahinter stecken! Aber was will das Schicksal mir damit bloß sagen?