Als ich vor ein paar Monaten geschäftlich in Atlanta, Georgia, zu tun hatte, habe ich mir zwei Stunden Zeit genommen und habe Martin Luther King besucht. Er wohnt – sein Geist, jedenfalls; sein Körper liegt dort auch begraben – in der Auburn Avenue, „Sweet Aubern“, wie es verklärt in den Erinnerungen derjenigen weiterlebt, die darin den Kristallisationskern einer aufkeimenden schwarzen Mittelschicht in Amerika sowie der Ausgangspunkt für den Kreuzzug der „Civil Rights Movement“ sehen, der Amerika in den 50er und 60er Jahren so nachhaltig veränderte.
Für mich als Jugendlicher – ich bin Jahrhang 50 – war King ein Gesicht im Fernsehen, meist gefolgt von Bildern prügelnder Polizisten und weinender Schülern und Studenten vor irgendeinem College in den Südstaaten, wo sie mit immer größerem Erfolg Einlass begehrten. Ich selbst lebte immer auf Luftwaffenstützpunkten, hübsch eingezäunte Biotope von Rassenharmonie, weil eine so komplexe Maschine wie ein Düsenbomber einfach nicht funktioniert, wenn diejenigen, die ihn warten und fliegen sollen Feinde sind. Die amerikanische Luftwaffe hat seinen Leuten den Rassenhass regelrecht ausgetrieben, und ich wuchs auf in Nachbarschaften, in denen schwarze und weiße Kinder völlig selbstverständlich miteinander spielten und zur Schule gingen. Als ich etwa fünf Jahre alt war, wohnte der beste Freund meines Vaters, ebenfalls ein Luftwaffen-Major, zwei Häuser neben uns, und er ging fast jeden Tag bei uns und wir bei ihnen aus und ein. Seine Tochter „Frusi“ und ich schliefen öfters in einem Bett, eng aneinander gekuschelt. Sie trug kleine Zöpfe, die mit weißem Band zusammengebunden waren, und weiße Söckchen. Ich werde sie nie vergessen.
Es hat lange gedauert, bis ich eine Verbindung in meinem Kopf herstellen konnte zwischen Leuten wie Frusi und ihrem Vater und den Bildern im Fernsehen aus Montgomery, Little Rock, Birmingham, Neshoba County oder Selma. Und als Martin Luther King zwei Tage nach meinem 18. Geburtstag, am 4. April 1968, in Memphis erschossen wurde, habe auch ich geweint. Er war für mich kein schwarzer, sondern ein großer Mann, und sein Verlust hat in mir das gleiche Gefühl von Leere und Orientierungsverlust erzeugt wie fünf Jahre zuvor die Schüsse von Dallas, die John F. Kennedy töteten.
In Atlanta habe ich, 40 Jahre später, persönlich Abschied von Martin Luther King genommen., Ich habe vor dem weißen Grabmal gestanden und bin durch die Halle des benachbarten Visitors Center gegangen, habe die alten Wochenschauen von damals nochmal angesehen und die unvergessliche Stimme gehört, der von seinem Traum erzählt, dass eines Tages die Söhne von Sklaven und die Söhne von Sklavenbesitzern zusammen an einem Tisch sitzen werden und dass eines Tages kleine Kinder, schwarz und weiß, sich an den Händen fassen werden als Schwestern und Brüder. Und ich habe in diesem Moment an Fruzi gedacht, die wirklich wie meine Schwester war. Was wohl aus ihr geworden ist?
Gestern habe ich im Internet die Stimme von Barak Obama gehört, und es war fast wie damals. Da steht ein Mann, ein schwarzer Mann, auf und spricht die Dinge aus, die ich immer schon geahnt aber selbst so nicht aussprechen konnte. Dass Sklaverei und Rassenhass die amerikanische Ursünde sind, dass die Wut bei jedem Schwarzen im Herzen simmert, auch wenn er es mir nie ins Gesicht sagen wird, dass aber auch der arme Weiße in Amerika eine unausgesprochene Wut im Bauch herumträgt, weil sein Job weg ist und er nicht mehr weiter weiß und dafür einen Schuldigen sucht, die Schwarzen nämlich, die herumlungern und von Wohlfahrtsstaat ernähert werden während er jahrelang geschuftet hat und jetzt ist alles weg.
Und Obama hat daraus den einzig logischen, ja den einzig möglichen Schluss gezogen: Wenn beide nur weiter ihre Wut mit sich herumtragen, kommen wir nicht weiter. Er sprach von Amerika, aber er hätte genauso gut Palästina, über den Kongo, über die Banlieues von Clichy-sous-Bois oder Neuperlach oder die Slums von Sadr City meinen können. Überall da, wo es nicht weitergeht, weil keiner sich bewegen will, bewegen kann, nicht weiß, wie Bewegung geht, sich erschlagen fühlt von der eigenen Macht- und Ausweglosigkeit.
Ich glaube, dass es in der Geschichte immer wieder Gelegenheitsfenster gibt, kurze Momente, da eine scheinbar festgefahrene Situation ins Ungleichgewicht gerät und mit einem kleinen Stoß ins Rollen kommen kann. Solche Augenblicke kann man meistens mit einem Menschen und einer Szene festmachen: der kniende Willi Brandt in Warschau, Nelson Mandela mit erhobener Faust nach seiner Freilassung aus dem Drakenstein-Gefängnis.
Ist die Rede von Barak Obama in Philadelphia ein solches historisches Fenster, das sich öffnet? Oder erleben wir alle, die wir uns gerade gegenseitig begeisterte Mails hin- und herschicken und die Download-Server von YouTube und dem National Public Radio bis an die Belastungsgrenze traktieren, nur von dem Rausch befallen, den Roger Cohen heute in der „New York Times“ empfindet wenn er schreibt: „Ehrlichkeit geht einem gerade ein bisschen zu Kopf. Acht Jahre lang haben wir in der ausgetrockneten, Die-da-gegen-uns-Formeln von Busch mittelmäßigem Geist gewohnt, und das Ergebnis ist, dass die nuancierte Erkundung von Amerikas schwierigstem Thema geradezu schwindelerregend wirkt.“
Mal sehen, wie lange der Rausch anhält, und ob die Ernüchterung auf dem Fuße folgt. Wäre jammerschade – eine solche Chance bekommen wir nicht sehr oft.