Mord ist nicht gleich Mord – oder doch?

In seinem neuen Buch, „The Judge’s List“ behauptet der Krimiautor John Grisham, dass es in den USA jedes Jahr rund 15.000 Morde gibt, wovon ein Drittel niemals aufgeklärt werden. In Wahrheit sind die Zahlen noch schlimmer: Laut FBI gab es 21,570 Mordfälle 2020 – ein Anstieg um fast 30%! Das ist zwar immer noch weniger als in den 1990ern, aber schlimm genug, wenn auch nicht wirklich verwunderlich in einem Land, das so voller Schusswaffen ist. Angeblich, so Grisham, wird ein Drittel aller Fälle niemals aufgeklärt. Das wären in 10 Jahren um die 70.000 offene Mordfälle!
 
Was mich aber wundert: In Deutschland werden laut Statista werden in Deutschland 92 Prozent aller Morde aufgeklärt. Da es bei uns offiziell nur rund 250 Fälle im Jahr gibt, wären das 20 „kalte Fälle“ wie es im FBI-Jargon heisst.
 
Die USA haben viermal so viele Einwohner wie Deutschland, aber fast zehnmal mehr Tötungsdelikte.

Auch wenn die Aufklärungsrate bei Mord in Östereich signifikant schlechter ist als beim großen Nachbarn im Norden (2020 nur 54,2% bei allerdings nur 43 angezeigten Fällen!), wollte ich mich dennoch gerade zufrieden in meinem Sessel hier oben in den alzburger Alpen zurücklehnen, als ich über eine Ausgabe von „Die Kriminalpolizei – Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei“ aus dem Jahr 2008 gestolpert bin. Und da heisst es: „Jeder zweite Mord bleibt unentdeckt“.
 
Einer Studie der Universität Münster zufolge würden in Deutschland Jahr für Jahr bei rund 11.000 Toten fälschlicherweise eine natürlich Todesursache diagnostiziert. 1.200 seien in Wahrheit Opfer von Tötungsdelikten, bei den anderen handele es sich um nicht erkannte Suizide, Unfälle und ärztliche Kunstfehler. Die Untersuchung würde zwar aus dem Jahr 1997 stammen, die Zahlen ´seien aber heute immer noch aktuell.
„Zufällig, durch überraschende Geständnisse der Täter oder durch privat finanzierte Obduktionen, geraten immer wieder Mordopfer auf den Seziertisch, die laut Totenschein auf natürliche Weise gestorben sind“, heisst es in dem Bericht, der von der Fernsehjournalistin Ulrike Eichin geschrieben wurde.
Ob überhaupt ermittelt wird, entscheide ohnehin der herbeigerufene Arzt und nicht etwa die Polizei. Er setze bei der Leichenschau das entsprechende Kreuz auf den Totenschein. Jeder approbierte Mediziner sei dazu verpflichtet – auch wenn er seit dem Studium keine Leiche mehr gesehen habe. Viele zierten sich, erst recht Hausärzte, die oft eine enge Beziehung zur Familie haben. Die Leichenschau bestünde dann aus Gründen der Pietät nur aus einem raschen Blick.
Manchmal bremsten auch Polizeibeamte einen zögernden Arzt, der in ihren Augen übertrieben kritisch ist. Denn ein Ermittlungsverfahren bedeutet jede Menge Arbeit: „SpuSi“ (Spurensicherung), Nachforschungen, Zeugenbefragungen, ausführliche Berichte….
Ermittlungen in einem Mordfall sind nicht nur aufwendig, sie kosten auch Geld – erst Recht, wenn spezielle Sonderuntersuchungen nötig sind.
Wenn man das alles liest, beginnt die Riesendifferenz bei der Aufklärungsquote zwischen den USA und Deutschland auf einmal deutlich zu schrumpfen. Vielleicht konnte Grisham seinen nächsten Krimi ja bei uns ansiedeln?
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