Ich bin ein Quorot! Das war nicht immer so. Richtig gepackt hat es mich erst in den Tagen des Covid, wo ich notgedrungen die meiste Zeit im Home Office verbringe. Das an sich wäre nicht schlimm – ich arbeite seit 1980 im Home Office. Nur bin ich früher auch sehr viel rumgekommen, habe Vorträge gehalten, Veranstaltungen, Messen und Pressekonferenzen besucht oder habe mit meiner Frau zwischendurch kurze Städtetrips gemacht, nach Italien, Frankreich, nach Ungarn, Slowenien, Kroatien oder in die Schweiz, und wir haben zwei- oder dreimal im Jahr unsere Kinder in Irland besucht.
Aber dieses Jahr geht das alles nicht mehr. Heute ist es schon eine Abenteuerreise, wenn wir nach Spittal an der Drau fahren zu Obi oder zum Yummi Yummi, einem chinesischen Street Food Lokal, wo der Sohn breites Kärntnerisch spricht.
Man liest heute viel vom Koller, den Leute bekommen, denen dieses Heimbüro grenzenlos auf den Keks geht. Aber so war das ja auch nicht gemeint mit dem Home Office, nämlich immer daheim rumsitzen. Was ich in meinen Büchern und Vorträgen seit einem Vierteljahrhundert predige ist die Selbstbestimmung, nämlich das Recht, sagen zu können: „Heute bleibe ich daheim und arbeite. Morgen möchte ich aber wieder ins Büro, und übermorgen fliege ich nach Hamburg und arbeite im Flieger oder in der Lounge. In der Schönen Neuen Welt von Arbeiten 4.0 sollten die Menschen ihre Arbeitsumgebung nach Lust, Laune, Neigung und Talent selbst gestalten können.
Stattdessen hocke ich acht Stunden oder mehr vor dem Bildschirm. Am Anfang war das noch ganz toll, denn ich hatte ein Buchprojekt in der Schublade, „Erfolgsfaktor Künstliche Intelligenz“, und ich kam jetzt endlich dazu, es tatsächlich auch zu schreiben. Schreiben ist mein Leben. Ich habe 1969 als kleiner Volontär bei unserer Lokalzeitung angefangen, und seit 50 Jahren vergeht kein Tag, an dem ich nicht irgendwelche Gedanken niederschreibe. 1995 begann ich diesen Blog hier, und das war so, als ob ich auf einmal meine eigene Zeitung. Ich schrieb und schrieb. Ungefähr 1.200 Posts sind im Laufe der Zeit entstanden, über alles von der Digitalen Transformation bis zur Frage, ob Männer im Stehen pinkeln sollen.
Und dann kam Quora!
Wenn es Quora nicht schon gäbe, müsste man es erfinden. Das taten 2009 Adam D’Angelo, der ehemalige Technikchef von Facebook, und Charlie Cheever, ein alter Freund aus den Gründungstagen von Facebook, die beide vorher bei Microsoft waren. 2014 kriegte der winzige Startup eine dicke Finanzspritze von $80 Mio., was die Firmenvalidierung mit einem Sprung auf über 900 Mio. hievte. Gut, ein echter Unicorn war Quora damit immer noch nicht, aber die beiden hattej jetzt jedenfalls ein bisschen Geld zum Spielen.
Der Name Quora ist übrigens eng mit dem lateinischen Verb quaere verwandt, was „anfragen“ oder „abfragen“ bedeutet. Das Hauptwort Quorum stammt dagegen aus dem Mittelenglischen und bezeichnete die Kommission, die früher Friedensrichter bekamen.und ist der Genitivplural von qui, „wer“. Quorum heisst also „von wem?“, aber das wussten weder D’Angelo noch Cheever, denn sie waren keine Geisteswissenschaftler, sondern Techies, und die Sprachwurzeln des neuen Firmennamens waren ihnen weitgehend unbekannt. „Wir verbrachten ein paar Stunden mit Brainstorming und schrieben alle Ideen auf, die uns einfielen. Nachdem wir uns mit Freunden beraten und diejenigen eliminiert hatten, die uns nicht gefielen, schränkten wir es auf 5 oder 6 Finalisten ein und entschieden uns schließlich für Quora“, sagte D’Angelego mal in einem Interview. Der engste Konkurrent sei „Quiver“ gewesen.
Wir reden heute gerne generativ über „die“ Sozialen Medien und welche wichtige Rolle sie in den Tagen des Virus spielen, wo jeder im Lockdown an seinem Tisch sitzt und spürt, wie ihm langsam die geistige Spannkraft zwischen den Fingern zerrinnen. Meinen tun wir damit meistens Facebook, Twitter, LinkedIn oder Instagram, vielleicht auch Exoten wie Snapchat, WhatsApp und Pinterest oder vielleicht auch diese Quereinsteiger wie TikTok oder Reddit. Wer komischerweise fast nie in den Rankings auftaucht ist Quora. Dabei ist es, wie ich finde, das wichtigste Soziale Medium von allen!
Auf Quora kann man Fragen stellen und bekommt Antworten. Jeder kann fragen, und theoretisch kann auch jeder antworten, der sich dazu berufenfühlt. In Wirklichkeit aber gibt es einen harten Kern von Antwortschreibern, eben diese Quoroten!
Morgens, wenn ich den Computer anmache, ziehe ich zuerst E-Mail, dann lese ich die New York Times und die Süddeutsche und gehe dann Quora um zu schauen, was es Neues gibt. Ich browse mich durch völlig hirnrissige oder überflüssige Fragen, die Google in Sekunenbruchteilen beantwortet hätte. Und dann bleibe ich irgendwann bei einer Frage hängen, wo es in meinem Hinterkopf zu rumoren beginnt und ich mir sage: „Ja, das wolltest du auch schon immer wissen!“ Oder das Thema ist so völlig abstrus und abgehoben, dass es mich reizt, eine Antwort zu finden. Und dann gibt es Dinge, die ich als Mensch, der auf ein langes und interessantes Leben zurückblickt, aus dem Effeff beantworten kann. Und ich tue es – stundenlang, Tag für Tag.
Ich habe keine Ahnung, wie viele Antworten ich in den vergangen sieben Jahren, seit ich Quora kenne, geschrieben habe, aber es müssen eine ganze Menge gewesen sein. Alleine in den letzten 30 Tagen haben knapp 20.000 Menschen meine Beiträge aufgerufen. Ich habe auch keine Ahnung, ob das besonders viel oder besonders wenig ist. Und darum geht es mir auch gar nicht, sondern darum, gegen den Koller anzuschreiben. Jede Antwort, die ich auf Quora poste, zwingt mich nachzudenken, zu suchen und zu recherchieren, mich in ein oft für mich völlig neues Thema zu vertiefen und einen vernünftigen Schluss zu ziehen. Und am Ende habe ich diesen ganzen Corona-Scheiss komplett vergessen!
Hier nur eine kleine Auswahl der Fragen, auf die ich in den letzten 30 Tagen reagiert habe:
- Wie wurden im alten Rom Löwen und Tiger für die Arena gefangen?
- Wo ist die garer cité du vin in Bordeux?
- Wie feiert man in Kanada Thanksgiving?
- Warum ist der Name Nurlaila in Holland so beliebt?
- In welchem Jahr fand die Salz-Satyagraha statt?
- Wer ist der König von Tirol?
- Was essen die Franzosen am Bastille-Feiertag?
- Wie weit sind die Visigoten gekommen?
- War Karna ein Esel?
- Was war das Lieblingsgericht von Immanuel Kant? (Antwort: Königsberger Kloppse)
Es ist wie eine Mischung aus Quizshow und Kummerkasten, ein Kaleideskop des Wissens und Nichtwissen. Gut, anders als bei „Gefragt – Gejagt“ oder „Wer wird Millionär“ kann ich damit nichht reich werden. Aber in Zeiten wie diesen könnte ich das Geld sowieso nicht ausgeben.
Aber für einen, wie meine Frau sagt, ewigen Besserwisser wir mich ist es ein Traum! Ich kann aus den Vollen meiner Erfahrung schöpfen oder mich tief in ein völlig neues Themengebiet reingraben, stundenlang nach einer Antwort auf eine Frage suchen wie „Warum liegt der letzte Kaiser von Österreich in Funchal und nicht in der Kapuzinergruft begraben?“. Und ich musste ganzen Film nach 40 Jahren wieder von vorne anschauen, um die Frage beantworten zu können: „Welches ist die berühmteste Szene aus ‚Panzerkreuzer Potemkin‘?“ (Antwort: die Treppenszene mit dem umgestürzten Kinderwagen).
Tja, der eine schaut jetzt halt tagelang Soaps, der andere lernt backen, die dritte strickt einen Halsschal nach dem anderen. Und so verrinnen die Tage wie Kinderpipi, um meinen Lieblingsdichter Ringelnatz zu zitieren. Ich bin eben Quorot. Und ich finde, es gibt schlechtere Weg aus der ganz persönlichen Coronakrise.