Ich wurde neulich auf Quora, wo ich während des Covid-Lockdowns einen Gutteil meiner Zeit mit dem Beantworten teilweise sehr kluger Fragen (und auch ein paar doofe) verbringe darum gebeten zu erklären, wie die Blindenschrift funktioniert. Da ich darüber einmal bei unserem Lungauer Lions-Club einen Vortrag gehalten habe, und so hatte ich eine ziemlich ausführliche Antwort parat.
Wir Lions feiern an ihrem Geburtstag, dem 7. Juni, Helen Keller Day, weil sie 1925 in einer Festrede auf dem Weltkonvent der Lions Clubs diese aufgefordert hat, das Schutzpatronat für alle Blinden zu übernehmen. Daraus ist das Programm Sight First entstanden, eine der größten Aktivitäten der Lions-Bewegung weltweit und eine der wichtigsten internationalen Langzeit-Activitäten zur Bekämpfung von vermeidbarer Blindheit überhaupt. In den letzten 30 Jahren wurden mehr als 30 Millionen Sehbehinderte und Blinde von Lions Sight First unterstützt.
Helen Keller (1880-1968) war die erste Frau in den USA, die den Bachelor of Arts erwarb. Ihre Autobiografie The Story of My Life wurde als The Miracle Worker für Film und Bühne adaptiert. Im Jahr 1980, dem hundertsten Jahrestag ihrer Geburt, wurde sie durch eine präsidiale Proklamation von US-Präsident Jimmy Carter anerkannt und ihr Geburtstag zum nationalen Gedenktag erklärt. Aus diesem Anlass habe ich die folgende Festschrift verfasst.
Eine kurze Kulturhistorie der Blindenschrift
Über die Schrift und die Schriftsprache denken wir heute, wenn wir ehrlich sind, nicht sehr oft nach. Es weiß ja auch niemand, wer sie erfunden hat.
Von Sokrates wissen wir allerdings, dass er mit der Schrift, die aus Ägypten kam, auf Kriegsfuß stand. Sie pflanze „das Vergessen in die Seelen der Menschen,“ die nichts mehr auswendig zu lernen müssten. Er soll zu seinem Freund Phaidros gesagt haben: „Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still.“
So jedenfalls wird es von Platon überliefert, der selber die „tote Schrift“ als bloßes Derivat gegenüber der „lebenden und beseelten“ Rede abtat.
In Wirklichkeit erlaubt uns die Schrift, Wörter und Gedanken im Raum zu festzuhalten, sie aufzunehmen und mit ihnen komplexe Strukturen zu entwickeln. Wenn wir etwas lesen, hören wir das Gelesene in unserem Geiste. Wir können damit die Gedanken anderer in unseren eigenen Köpfen replizieren und weiterdenken. Wenn wir die Schriften eines längst verstorbenen Denkers lesen, laden wir das, was er vorgedacht hat, sozusagen in unser eigenes Gehirn hoch. Wer den Film „Matrix“ kennt, weiß was damit gemeint ist. Wir übertragen die Gedanken von anderen in unsere eigenen Köpfe. Wie geil ist das? Im Grunde grenzt es fast schon ans Gedankenlesen!
Schrift ist aber leider ein visuelles Medium, und da fangen für Blinde und sehbehinderte Menschen die Probleme an. Unsere Bildungssysteme haben über Jahrhunderte hinweg das Lesen in den Mittelpunkt gestellt, was oft zur Benachteiligung von Menschen ohne ausreichendes Sehvermögen geführt hat.
Es gibt Hinweise, dass in der Steinzeit behinderte Stammesmitglieder, zum Beispiel wenn sie bei einem Jagdunfall erblindeten, einfach getötet wurden, weil sie keine nützliche Rolle mehr innerhalb die Gemeinschaft spielen konnten und den anderen nur zur Last gefallen wären.
Lesen war Voraussetzung, als Mensch ernstgenommen zu werden, was oft zu einer sehr unfairen Benachteiligung Sehbehinderter geführt hat. So wurde ihre Bildung und Ausbildung oft vernachlässigt, nach dem Motto: „Na ja, sie können unsere Texte ja gar nicht lesen, also was können wir ihnen schon beibringen?“
Manchmal wurden Blinde allerdings auch verehrt. Denken wir an Homer, falls es ihn als historische Person wirklich gegeben haben sollte. Manche Blinde wurden zur Metapher, so wie Teiresias, der Sohn eines Schafhirten und einer Nymphe, der von Pallas Athena geblendet worden sein soll, weil er sie nackend im Bade gesehen hatte. Seine seherische Gabe aber, die ihm von seiner Nymphenmutter vererbt worden war, durfte er behalten.
Von Sehhilfen irgendwelcher Art ist bei den alten Griechen und Römern nichts überliefert. Im Gegenteil: Cicero klagte in einem seiner Briefe über das schwindende Sehvermögen im Alter und schrieb, dass ihm nichts weiter übrig bliebe, als sich von Sklaven vorlesen zu lassen.
Der Araber Ibn al-Haitam (965-1039) schrieb das Buch „Schatz der Optik“. Darin berichtete er über die Lehren des Sehens, der Refraktion und der Reflexion. Bahnbrechend ist seine Überlegung, das Auge mittels einer geschliffenen, optischen Linse zu unterstützen!
Westeuropäische Mönche griffen im Mittelalter den Gedanken al Haitam’s auf und fertigten halbkugelartige Plankonvexlinsen aus Glas oder Quarz, die sie „Lesesteine“ nannten. Wurde diese erste Lesehilfe mit ihrer ebenen Fläche auf Schriften gelegt, trat eine erhebliche Vergrößerungswirkung ein. Alterssichtig gewordene Klosterbrüder konnten wieder Lesen – Hallelujah!
Im 18ten Jahrhundert gab es mehrere Versuche, taktile Systeme zu entwickeln, die Blinden und Sehbehinderten ermöglichen sollten, Texte durch Ertasten zu „lesen“.
Einer der Pioniere war der Franzose Valentin Haüy („ah oui!“ ausgesprochen), der 1794 die erste Blindenlehranstalt Europas begründete.
Die Anregung dazu kam ihm 1771, als er einer entwürdigenden Zurschaustellung blinder Menschen beiwohnen musste, die sich „St. Ovids Messe“ nannte. Blinde Menschen wurden auf ein Podium verteilt, und gezwungen, auf Instrumenten nach Noten zu musizieren, die sie natürlich nicht sehen konnten. Das kakophone Konzert sorgte bei den Umstehenden für große Erheiterung.
Haüy dagegen war empört und begann kurz darauf, eine Schrift zu entwickeln, die aus erhabenen, dekorativ geschwungenen Buchstaben bestand, die einzeln mühsam ertastet werden mussten. Sie setzen auch voraus, dass der „Leser“ bereits die Schrift kannte, waren also für Menschen, die von Geburt an blind waren, weitgehen nutzlos.
1786 schrieb er ein Buch mit dem Titel, „Ein Essay über die Erziehung von Blinden“, die er dem französischen König widmete. Der stellte daraufhin das Geld für den Bau der ersten Blindenschule zur Verfügung. Es entstand die Institution Royale des Jeunes Aveugles (Königliches Institut für junge Blinde), heute das Institute National des Jeunes Aveugles.
Schrift ist von Sehenden erfunden worden. Die Blindenschrift, hingegen, erlebte ihre größten Durchbrüche durch Menschen, die selbst entweder blind oder sehbehindert waren. Nicht ,dass wir Haüys Verdienste irgendwie schmälern wollen: Es war ein Anfang, und er hat vielen Menschen geholfen.
Übrigens: Die Haüy-Schrift sieht recht hübsch aus, und es gibt sie als Font für den PC zum Herunterladen.
1845 stellte der britische Arzt William Moon ein System vor, das er „Moontype“ nannte – was für ein schöner Name! Ich muss da immer an Shakespeares Mittsommernachtstraum denken und an Elfenhochzeiten. Im Prinzip handelte es sich dabei ebenfalls um einen Schriftfont, der erfühlbar war. Die Buchstaben waren nur abstrakt angedeutet, was die Lesegeschwindigkeit erhöhte.
Das Problem der Schriften von Haüy und Moon war, dass die Bücher riesengroß und viel zu schwer waren. Ein durchschnittliches Buch brachte gut fünf Kilogramm oder mehr auf die Waage.
Was aber viel schwerer wog war, dass es einfach schwierig ist, erhaben geprägte Buchstaben alleine nach Gefühl zu entziffern. Das mag für einen Sehenden nicht so einsichtig sein: Schließlich können wir den Unterschied zwischen, sagen wir mal, „C“ und „G“, ziemlich leicht ertasten. Ihr könnt’s ja mal selber ausprobieren. In Kirchen findet man ja oft solche erhabenen Buchstaben auf Inschriften oder Grabmalen. Versucht mal, sie mit geschlossenen Augen zu entziffern.
Den nächsten Schritt in der Entwicklung einer funktionierenden Blindenschrift verdanken wir Napoleon. Der begann seine Karriere bekanntlich als Artillerieoffizier, und ihn plagte das Problem der nächtliche Schlachtfeldkommunikation. Um einen schriftlichen Befehl lesen zu können, musste jemand Licht machen, und das konnte dem Gegner die Position der Stellung verraten.
Es sprach sich herum, dass L’Empereur nach einer Lösung suchte, aber es dauerte bis 1819, also vier Jahre nach Waterloo, bevor der französische Kapitän Charles Barbier auf eine Idee kam, die er „Nachtschreiben“ nannte. Es bestand aus einem Codesystem das sich aus zwölf erhabenen Punkten zusammensetzte. Sie wurden in zwei Spalten aus je sechs Punkten auf einem Quadrat aus Pappe gestanzt.
Seine Erfindung fiel aber leider bei der Obrigkeit durch: Das Erlernen seiner Schrift dauerte zu lang; außerdem hätte der Bote, der den Code überbrachte, dem Empfänger die Botschaft ja auch ins Ohr flüstern können, ohne Licht zu machen.
Und das bringt uns auf einem langen Umweg endlich zu dem Mann, dem wir die heute weltweit verwendete Blindensschrift verdanken: Louis Braille.
Braille wurde am 4. Juni 1809 in Coupvray bei Paris als viertes Kind eines Sattlers geboren. Als er mit vier Jahren in der Werkstatt seines Vaters spielte, verletzt er sich mit einem Werkzeug am Auge schwer. Das Auge entzündet sich und die Infektion griff auch auf das unverletzte Auge über. Louis erblindet vollständig, aber weil er ein aufgeweckter, intelligenter Junge war, durfte er trotzdem die Dorfschule besuchen.
1819 bekam der zehnjährige Braille ein Stipendium an Valentin Haüy’s alter Schule. Dort lernte er das Nachtschreib-System von Charles Barbier kennen, das ja aus 12 Punkten bestand. 1824 – er war gerade 15 geworden – stellte Braille sein eigenes „Zellensystem“ vor, dass lediglich sechs Punkte benötigte. Publiziert wurde es 1829, und schon bald setzte es zum Siegeszug um die Welt an.
In einer Matrix aus sechs Punkten gibt es 64 mögliche Anordnungen. Braille nummerierte die linken Punkte abwärts 1, 2 und 3 und die rechten Punkte 4, 5 und 6.
Die ersten zehn Buchstaben des Alphabets (A–J) bzw. die Ziffern (0–9) nutzen nur die vier oberen der insgesamt sechs Punkte (Punkte Nr. 1, 2, 4, 5).
Die nächsten zehn Buchstaben (K–T) unterscheiden sich nur durch einen zusätzlichen Punkt unten links (Punkt Nr. 3).
Die folgenden Zeichen (U–Z) unterscheiden sich wiederum durch einen zusätzlichen Punkt unten rechts (Punkt Nr. 6). Das W wird in Brailles Muttersprache Französisch übrigens nicht benutzt und wurde daher erst später aufgenommen.
Die Brailleschrift hat sich im Laufe der Jahre immer weiter entwickelt. Es gibt Sonder- und Steuerzeichen und das System ist auf andere Sprachen und Alphabete übertragen worden, zum Beispiel Kyrillisch, Japanisch oder Tibetisch.
Das Chinesische stellte die Entwickler einer Brailleschrift vor besondere Herausforderungen, denn das chinesische ist keine Silbenschrift. Die Umschrift folgt der traditionellen Aufteilung einer Silbe in Anlaut (z. B. f) und Auslaut (z. B. ang), die jeweils durch ein Braille-Zeichen dargestellt werden. Ein drittes Zeichen gibt den Silbenton an, von denen es im Chinesischen mehrere gibt. Je nach Tonhöhe und ob der Ton steigt oder fällt kann ein Wort eine völlig unterschiedliche Bedeutung haben. Das Wörtchen „ma“ kann, jenach dem wie man es ausspricht. Mā bedeutet „Mutter“, má ist „Hanf“, mǎ heißt „Pferd“, und mà bedeutet „schimpfen. „Die Mutter schimpft mit dem Pferd“ heißt also „Mā mā mà mǎ“.
Dazu gibt es übrigens ein wunderschönes Video von einer kleinen Chinesin, die das auf Schwyzerdeutsch erklärt.
Es gibt heute neben dem Standard-Braille eine ganze Reihe von Brailleschriften für besondere Zielgruppen, zum Beispiel den Nemeth-Braille-Code für Mathematik zum linearen Codieren der mathematischen und wissenschaftlichen Notation unter Verwendung von Standard-Sechs-Punkt-Braille-Zellen. Der Code wurde von Abraham Nemeth entwickelt, einem amerikanischen Mathematiker und Erfinder. Braille selbst hatte schon 1828 seine „Braille-Musikschrift“ entwickelt.
Und im Internet-Zeitalter gibt es selbstverständlich auch ein Computer-Ausgabegerät für blinde Menschen, die so genannte Braillezeile. Ach ja, und Armbanduhren für Blinde gibt es natürlich auch.
Das inhaltliche Angebot in Brailleschrift umfasst ein weites Spektrum unterschiedlichster Werke. Es reicht von klassischer und moderner Literatur, über Fachbücher bis hin zu unterschiedlichster Pornografie. Es gibt Grafitti in Blindenschrift und auch ganze Zeitschriften zu unterschiedlichsten Themenbereichen. So veröffentlichte z. B. der Playboy in den Jahren von 1970 bis 1985 sein Magazin auch in Brailleschrift.
Eine Frage, die mich fasziniert, und wofür ich keine Antwort habe ist: Lesen Sehende und Blinde anders? Ist das Erlebnis vielleicht wie der Unterschied zwischen einem Buch aus Papier und einem Hörbuch?
Neurologen haben im Jahr 2011 in einer Studie festgestellt, dass Lesen bei Sehenden und Blinden in ähnlichen Arealen des ventralen visuellen Systems lokalisiert ist. Das deutet darauf hin, dass das visuelle Erleben nicht entscheidend ist für die Verarbeitung von Gelesenem. Es ist also egal, ob wir Geschriebenes mit dem Auge oder mit den Fingerspitzen wahrnehmen.
Ich denke, diese Frage ist auch für uns, die wir uns noch unserer vollen oder zumindest nur leicht eingetrübten Sehfähigkeit erfreuen, auch wichtig. Man wird ja schließlich nicht jünger.