Der Architekt ist ein eigenartiger Mensch: halb Künstler, halb Handwerksmeister, oft exzentrisch, manchmal genial. Manchmal wirken sie im Verborgenen oder sind in Vergessenheit geraten. Wer entwarf die Pyramiden von Gizeh? Welcher babylonische Baumeister schuf die Hängenden Gärten der Semiramis? Andererseits ist die Geschichte der Baukunst zumindest in der Neuzeit untrennbar mit oft kantigen Charakterköpfen verbunden; Typen wie Sir Norman Foster, Ieoh Ming Pei oder Frank Gehry verbunden. Louis Sullivan (1856 – 1924) wird bis heute als der „Vater der modernen Architektur“ verehrt, weil er nach dem Großen Feuer von Chicago 1871 begann, Gebäude mit selbsttragenden Stahlgitterrahmen zu bauen, die man zu Wolkenkratzern stapeln konnte. In den USA wird Frank Lloyd Wright (1867 – 1959) immer noch wie ein Heiliger verehrt, weil er dem Land mit seiner Vision von „Usonia“ ein Gesicht gab und es ihm den „amerikanische Traum“ vom suburbanen Leben in den Vororten verdanken.
Das Schöne an den Häusern von Frank Lloyd Wright ist, dass sie nicht nur sehr schön sind (schöner, jedenfalls als die Millionen vorgestanzter Fertigvillas, die ihm gefolgt sind), sondern dass man bis heute in den meisten von ihnen noch wohnen kann, zumindest wenn man das nötige Kleingeld hat, denn die meisten der über 400 Einfamilienhäuser, die aus seiner Feder stammen, sind noch in Privatbesitz und bewohnt. Für rund 100 Dollar können Sie sogar im Arnold Jackson House in Beaver Dam (Wisconsin) übernachten: Es ist heute ein Bed & Breakfast. Sein dreieckiges Palmer House in Ann Arbor (Michigan) kann man für rund 2500 Dollar die Woche mieten.
Was Wright für Amerika war, ist für Europa Charles-Édouard Janneret (1887 – 1965), der sich später „Le Corbusier“ nannte. Der Schweizer, der meistens ins Frankreich lebte, hat nicht nur höchst umstrittene Bauwerke geschaffen, sondern auch eine Lebensphilosophie begründet, deren Ästhetik sich an der „neuen Realität“ der postindustriellen Formsprache orientiert. Seine Entwürfe sind zweckmäßig, funktional und vor allem wirtschaftlich. Er orientierte sich dabei an den reinen Zweckbauten der Technik und Industrie, und viele seiner Wohngebäude sehen auch fast aus wie Fabriken. Die von ihm 1927 zusammen mit Mies van der Rohe und anderen erbaute Weißenhofsiedlung, die ich aus meinen Jahren in Stuttgart kenne, erregt heute noch die Gemüter, vor allem dann, wenn der Besitzer eines solchen „Häusle“ es wagt, nachträglich Hand anzulegen.
Die Bauten Le Corbusiers gefallen also nicht jedem, aber wer sie liebt, der ist ihnen schnell verfallen. So wie meine Freundin Danielle, eine zärtliche, ebenso feingliedrige wie feingeistige Französin, die früher mit ihrem Mann Michel in München lebte. Als sie vor ein paar Jahren nach Genf zogen, entdeckte sie am Rande der Innenstadt ein ziemlich heruntergekommenes Bauwerk aus Stahl und Glas, das sie immer mehr zu faszinieren begann. Sie recherchierte und fand heraus, dass Le Corbusier das Wohnhaus zwischen 1930 und 1932, als er auf der Höhe seines Ruhmes stand, für den Schweizer Industriellen Edmond Wanner gebaut hatte. Es umfasst 45 Duplex-Wohnungen, die weitgehend aus vorgefertigten Bauteilen entstanden und in deren lichtdurchströmtem Design er seine berühmten „Fünf Punkten der Neuen Architektur“ (Betonstützen, Dachgärten, Langfenster, völlig freie Grundriss- und Fassadengestaltung) schon fast beispielhaft umsetzen konnte.
Le Corbusier nannte das Haus „Maison Clarté“, was so viel bedeutet wie „Haus der Klarheit“, und am Anfang muss das Gebäude wirklich eine klare, transparente Wirkung entfaltet haben, die zumindest viele zeitgenössische Architekten begeisterte. Der Volksmund scheint weniger überzeugt gewesen sein. Jedenfalls hieß das Gebäude bald bei den Einheimischen „das Schlachtschiff“, vor allem später, als der Eisenbeton und die von Le Corbusier entworfenen Beschläge Rostflecke anzusetzen begannen. Kaum ein Passant würdigte jahrelang dem hässlichen Glasklotz eines zweiten Blickes, außer Danielle, die sich fast augenblicklich in das Haus verliebte und jahrelang davon träumte, wie es wäre, in Räumen aus Licht und Glas zu leben, umgeben und beseelt vom Geist des großen Architektur-Revoluzzers.
Als sie hörte, dass ein Bauträger dabei war, Pläne für eine Renovierung zu entwickeln, stand für sie jedenfalls fest: „Da ziehen wir hin!“ Ihren Mann Michel, ein lebensfroher frankophoner Filou, den man sich eher als Chateaubesitzer irgendwo in der Provence vorstellen kann, ließ sich breitschlagen, und so konnte sich Danielle zusammen mit ihren Innenarchitekten und ein paar grundsoliden Handwerkern ans Werk machen. Nach mehr als einem Jahr konnten die beiden in die lichtdurchflutete Dreizimmerwohnung einziehen. Und nach mehr als einem Jahr haben wir es endlich mal geschafft, sie in Genf zu besuchen und das Ergebnis ihrer rastlosen Bemühungen zu erleben.
Es ist auf jeden Fall erstaunlich, was sie geschaffen hat. Ob es jedermanns Sache ist, bleibt mal dahingestellt. Sagen wir es so: Ein Zen-Buddhist hätte sicher seine helle Freude an dem konsequenten Minimalismus der Wohnung, der völligen Transparenz und Leere, hier und da durch willkürlich gesetzte Einrichtungsnoten eher betont als unterbrochen: eine alte Malerleiter dient gleichzeitig als Raumteiler und Blickfang, Bilder sind gegen die Wand gelehnt statt aufgehängt, im Bad bilden ein paar Kieselsteine am Boden ein meditatives, völlig zweckfreies Kunstwerk, das eigenartigerweise perfekt zur puren Zweckform der Architektur passt und diese sogar noch unterstreicht.
Ja, es ist schon ein bisschen wie in einem Aquarium zu leben, gibt Danielle zu. Der Nachbar gegenüber sitzt manchmal im Dunkeln seines Schlafzimmers und schaut ihr stundenlang zu, wie sie in ihrer gläsernen Wohnung herumläuft. Beim Duschen darf sie nicht vergessen, die rotbraunen hölzernen Jalousien herab zu lassen. Es ist ein Leben auf dem Präsentierteller, aber irgendwie gewöhnt man sich daran, und nach einigen Tagen denkt man nicht mehr darüber nach, sagt sie. Die Betondecken und Wände übertragen die Schritte der Nachbarn recht deutlich, zumal ein Teppichboden in einem solchen Ambiente schon fast ein ästhetisches Sakrileg wäre.
Man kann Danielles Wohnung eigentlich nicht beschreiben, man muss es gesehen haben. Und langsam fange ich an, den Reiz des neuen Senkrechtstarters unter den Social Media-Plattformen, Pinterest, besser zu verstehen. Es ist eine reine Pinwand im Cyberspace, nichts weiter: Man lädt ein paar Bilder hoch, schreibt ein paar Worte dazu und lädt seine Freunde ein, davor zu stehen und den Blick schweifen zu lassen. Probieren Sie es mal aus: Meine neueste Pinwand heißt „Maison Clarté in Gevena, a long-forgotten masterpiece by Le Corbusier“ und ist eine respektvolle Verbeugung vor einem großen Geist und vor einer kleinen Frau, die diesen Geist verstanden und verinnerlicht hat. Vielen Dank, Danielle. Und natürlich auch Ihnen, Le Corbusier!