Der Aufruhr über den im „heute Journal“ fernsehöffentlich aufgeführten verbalen Schlagabtausch zwischen SPD-Chef Sigmar Gabriel und ZDF-Moderatorin Marietta Slomka (von einigen Kommentatoren auch als „Bitchfight“ bezeichnet) berührt ein zentrales Thema des Buchs von Ossi Urchs und mir, „Digitale Aufklärung“, in der wir uns Gedanken über die Zukunft der Stellvertreter-Demokratie im Zeitalter der digitalen Vernetzung machen. Slomka warf bekanntlich die Frage auf, ob es überhaupt verfassungsrechtlich erlaubt sei, bei der SPD-Parteibasis die Zustimmung dafür einzuholen, mit der CDU/CSU in eine Große Koalition einzusteigen, oder ob damit nicht gegen das geltende Verbot des imperativen Mandats verstoßen werde, da der einzelne Abgeordnete in seiner Gewissensentscheidung frei bleiben müsse. Gabriel nannte das „Blödsinn“, und er hat damit auch vollkommen Recht.
Die Diskussion zeigt aber auch, wie tief die Angst des Establishments (zu dem auch eine öffentlich-rechtliche Moderatorin wie Frau Slomoka gehört, deren Aufsichtsorgan bekanntlich nach Parteiproporz besetzt ist) vor der direkten Demokratie sitzt. Das ist übrigens eine Denktradition, die in meiner eigenen Heimat, den USA, wo die Idee der repräsentativen Demokratie zum ersten Mal in großen Stil praktiziert wurde, von Anfang an eine große Rolle spielte. Schon der Ausdruck „Demokratie“ bedeutete für die Gründerväter um George Washington und Thomas Jefferson „Herrschaft des Mobs“, und man war keineswegs bereit, die Zügel der Politik direkt in die Hände von Krethi und Plethi zu geben. Deshalb wird der US-Präsident auch nicht vom Volk, sondern von einem Gremium aus vermutlich verantwortungsvollen „Wahlmännern“ gegeben, die auch nur ihrem Gewissen verpflichtet sein sollen. Dass sich im Laufe der Jahrhunderte die Gewohnheit herausbildete, dass alle Wahlmänner für den Kandidaten stimmen, der in ihrem jeweiligen Bundesstaat die Mehrheit der (Wähler)Stimmen bekommen hat, ist übrigens in den USA nirgendwo verfassungsrechtlich legitimiert. Wenn sich Frau Slomka über Verfassungsbruch erregen will, hätte sie da ein viel besseres Ziel.
In Deutschland hat es zwar in den Endtagen der DDR kurzzeitig Stimmen gegeben, die in Sprechchören („Wir sind das Volk!“) eine direkte Beteiligung der Bevölkerung an demokratischen Entscheidungsprozessen gefordert haben, aber sie sind in der allgemeinen Euphorie von Mauerfall und Eins-zu-eins-Währungsumtausch schnell wieder untergangen. Die DDRler bekamen mit dem gesamten westlichen Politsystem auch die Allmacht der Parteien aufgedrückt, aber das kannten sie ja schließlich auch schon. Nur dass es damals eine einzige Partei war, die stellvertretend für sie dachte und waltete.
In „Digitale Aufklärung“ stellen Ossi und ich die bewusst provozierende Frage: Wie weit kann direkte Demokratie gehen? Die radikalste Antwort auf diese Frage lautet: Sie kann politische Parteien als Organisationsform ersetzen – und zwar durch unmittelbare Beteiligung der Bürger.
Die Piraten sind vor allem daran gescheitert, dass sie versucht haben, direkte Demokratie in eine klassische Parteienstruktur zu gießen. Das hat ganz offensichtlich nicht funktioniert, wie man am raschen Auf- und Wiederabstieg der Piraten-Partei sehen kann. Die Piraten waren viel effizienter und glaubwürdiger, als sie keine Partei waren, da hätten sie vielleicht etwas bewegen können. So haben sie sich selbst marginalisiert. Heute sind sie eine Fraktion innerhalb einer breiten „oppositionellen Gegenmacht“, die in der digitalen Szene seit Jahren existiert und sich dort durchaus ihre Relevanz bewahrt hat.
Die Piraten geben uns ein abschreckendes Beispiel dafür, was passiert, wenn man versucht, wirklich Neues innerhalb alter Strukturen umzusetzen , ohne nachzudenken, was das für diese Strukturen wie für das Neue selbst bedeutet. Wer versucht, die Instrumente der direkten Demokratie in eine parteienbestimmte, parlamentarische Umsetzung zu bringen, rennt offenbar sehr schnell gegen die Wand.
Viel interessanter (und langfristig vielleicht auch zielführender) scheint der Ansatz zu sein, den die Online-Aktivisten der Gruppe „Anonymous“ verfolgen. Wie die französischen Autoren Frédéric Bardeau und Nicolas Danet in ihrem im März 2012 erschienen Buch „Anonymous – von der Spaßbewegung zur Medienguerilla“ schreiben, ist hier eine Art Online-Pendant zum linken Aktivismus auf der Straße entstanden. Diese „Hacktivisten“, wie sie sich selber nennen, haben sich innerhalb kurzer Zeit durch spektakuläre Aktionen einen gewaltigen Ruf erarbeitet, der beispielgebend sein könnte für die Art und Weise, wie in Zukunft immer häufiger politische Meinungsbildung über digitale Medien geformt und beeinflusst werden wird. Und wie sie gleichzeitig – hier zeigt sich der multidimensionale Charakter digitaler Medien besonders deutlich – für direkte politische Aktionen genutzt werden können.
Diese Aktionen richteten sich in der Vergangenheit gegen einen bunten Strauß an zum Teil übermächtig wirkenden Gegnern, von Scientology bis Sony, von der mexikanischen Drogenmafia bis zu Pädophilennetzwerken, vom FBI bis zur NSA, und natürlich gegen Regierungen in bekannten Unterdrückerstaaten wie Tunesien, Iran oder Ägypten. Mit ihren Aktionen beim WTO-Gipfel 1999 in Seattle, die als die mediale Geburtsstunde der globalisierungskritischen Bewegung gilt, wurden Anonymous selbst zum Medienereignis, das je nach politischem Standpunkt wahlweise als kriminelle Vereinigung oder als Vorkämpfer einer digitalen Befreiungsbewegung verteufelt oder bejubelt wurde.
Es gibt eine bemerkenswerte historische Parallele, die Bardeau und Danet beschreiben, und die es verdient, an dieser Stelle wiederholt zu werden: „Könnte Anonymous, das aus einem offenen und auf Zusammenarbeit basierenden Internet hervorging – so wie die Aufklärung aus der Erfindung des Buchdrucks hervorgegangen war und zur Französischen Revolution führte – die Speerspitze einer weltweiten Revolution sein?“
Müssen wir also die Parteien abschaffen? Sind sie tatsächlich die Wurzel allen politischen Übels, weil sie von Natur aus die Gegner einer direkten Demokratie sind? Folgt man dieser Argumentation, dann ist die Misere der Volksparteien in Deutschland eine Misere des von den Parteien usurpierten parlamentarischen Systems. „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, heißt es in Artikel 21 des Grundgesetzes. In Wahrheit sind sie ein Ersatz für echte politische Willensbildung geworden.
Eine etwas weniger radikale Sichtweise geht davon aus, dass es möglich sein müsste, Strukturen zu schaffen, die bei wichtigen und grundsätzlichen Entscheidungen den Weg der direkten Abstimmung erlauben, wie es beispielsweise in der Schweizer Verfassung vorgesehen ist. Dort ist es dem Bürger unter bestimmten Voraussetzungen möglich, über politische Fragen abzustimmen und Entscheidungen ohne Rücksicht auf Parteigrenzen zu erzwingen. Statt um Parteidisziplin geht es dort in aller Regel um Sachfragen.
Dennoch ist es unter den gegebenen Umständen sinnvoller, in Szenarien zu denken, statt nach der Abschaffung politischer Parteien zu rufen. Ein solches wäre zum Beispiel, dass Politiker und Parteien es doch noch schaffen, eine gesellschaftliche Veränderung anzustoßen, die in diese Richtung direkter Demokratie und plebiszitärer Elemente führt (wobei es dann sein könnte, dass sie sich am Ende tatsächlich selbst überflüssig machen). Das andere Extrem ist das Modell einer formatierten Gesellschaft, wie sie der deutsche Historiker Wolfgang Mommsen 1999 in dem von Hans Eichel und Hilmar Hoffmann herausgegebenen Band „Ende des Staates – Anfang der Bürgergesellschaft“ beschrieben hat. In einer solchen Gesellschaft wären plebiszitäre Instrumente a priori zu bekämpfen, weil nur eine repräsentative Demokratie die zum Fortbestand der Parteien und damit des Staats notwendige Stabilität garantiert.
Beide Szenarien sind denkbar. Tatsächlich schrecken hierzulande die etablierten Parteien immer wieder vor allzu mutigen Experimenten in Sachen direkter Demokratie zurück und lassen sie nur höchst widerwillig und in homöopathischen Dosen zu. Beispiele anderer Länder, etwa in Skandinavien oder das der Schweiz, weisen in eine ganz andere Richtung und lassen hoffen, dass sich unser erstes Szenario langfristig vielleicht doch durchsetzen wird.
Das Problem, das von Skeptikern und Gegnern der direkten Demokratie immer wieder vorgebracht wird, ist in erster Linie ein praktisches: Kein Mensch hat Lust, jeden Sonntag abstimmen zu müssen über Dinge, die von den meisten eher als politische Lappalien eingestuft werden. Außerdem gibt es unbestreitbar die Notwendigkeit einer gewissen Kontinuität in der Administration eines Staates. Eine Regierung lässt sich nicht einfach so ad hoc zusammenwürfeln.
Warum Berufspolitiker die direkte Demokratie fürchten wie der Teufel das Weihwasser wurde kürzlich von der Präsidentin des Nationalrats im Nachbarland Österreich, Barbara Prammer, in einem Interview der Salzburger Nachrichten mit entwaffnender Ehrlichkeit ausgesprochen: Das Wesen der Demokratie sei der Kompromiss. Von „Entweder-oder-Abstimmungen“ halte sie nichts, wenn überhaupt, dann sei sie für Volksbegehren, die aber auch nur das sind, nämlich Begehren. Entscheiden müsste nach wie vor das Parlament. Und überhaupt müsse man ja erst direkte Demokratie lernen, vielleicht indem man sie auf Gemeinde- oder Landesebene einführt. Direkte Demokratie ja, also, aber bitte mit Stützrädern und natürlich unter dem gütigen Patronat der herrschenden Politikerkaste. Von wegen glückliches Österreich!
Nebenan in der Schweiz bietet man ein gutes Beispiel dafür, wie man die Prinzipien von direkter und repräsentativer Demokratie auf der ganz praktischen Ebene unter einen Hut bringen kann. Das dort seit Jahrzehnten vorgelebte Konsensprinzip stellt sicher, dass alle Parteien gemeinsam an der politischen Willensbildung beteiligt sind. Gleichzeitig besitzt das Volk ein mächtiges Regulativ, mit dem es seine gewählten Vertreter jederzeit zurückpfeifen oder maßregeln kann. Eine in diese Richtung gehende „Helvetisierung“ der Politik“, wie sie der aus Ostwestfalen stammende Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler (FDP) bereits 2011 gefordert hat, könnte ein Gegenentwurf zum parteienzentrischen deutschen Demokratiemodell und damit ein erster Schritt auf dem Weg zu einer wirklich vernetzten „digitalen Demokratie“ sein.
Ein solches System fügt der klassischen Dreier-Gewaltenteilung eines John Locke und eines Baron de Montesquieu eine vierte hinzu, nämlich neben Gesetzgebung (Legislative), ausführender Gewalt (Exekutive) und Rechtsprechung (Judikative) die Vox populi, die Stimme des Volkes. So könnte denn, nach vielen hundert Jahren, der Begriff der Demokratie in seiner korrekten Übersetzung („Herrschaft des Volkes“) wieder eine gewisse Berechtigung erfahren.
Die Frage ist: Welche Rolle spielen dabei Digitalisierung und Vernetzung, und was haben beide zur weiteren Entwicklung des demokratischen Systems beizutragen? Nun, zunächst ermöglichen sie ganz praktische Vorteile, wie etwa Volksabstimmungen und Wahlen online abzuhalten. Außerdem können beide dazu beitragen, die Voraussetzungen für eine funktionierende Vierte Macht im Staat zu schaffen. In einem solchen politischen System wäre die Zugehörigkeit zu einer Partei, die früher die einzige Möglichkeit war, direkten Einfluss auf politische Prozesse und Entscheidungen zu nehmen, verzichtbar. Mit Blogbeiträgen, Facebookseiten oder Online-Petitionen ließen sich politische Veränderungen auch ohne den Umweg über Parteien und Institutionen ganz direkt anstoßen.
Für die Parteien bedeutet das umgekehrt, dass sie gezwungen sein werden, sich mit den digitalen Instrumenten der politischen Willensbildung aktiv auseinander zu setzen und zu lernen, auf dieser für sie ganz neuen Klaviatur zu spielen. Schaffen sie es nicht, dann droht ihnen das gleiche Schicksal wie der kurzlebigen Piraten-„Partei“, nämlich das ebenfalls deutlich beschleunigte Abgleiten in die Irrelevanz.
Ich denke, das Beispiel der SPD wird also eher Schule machen. Wir werden in Zukunft mehr, nicht weniger, direkte Demokratie erleben – und das ist gut so. Und so wird sich vielleicht jener Satz aus dem Gabriel-Slomka-Schlagabtausch, der im Übrigen den Stoff zum Instant-Klassiker hat, am Ende als prophetisch für die Stellvertreter-Demokratie erweisen, nämlich: „Lassen Sie uns den Quatsch beenden.“