Wer an einem schönen weißblauen Vormittag durch die Münchner Dienerstraße spazieren geht, erblickt an der strahlend gelben Renaissancefassade des Feinkostgeschäfts von Alois Dallmayr ein kleines Messingschild mit der Aufschrift: „königlich bayerischer Hoflieferant.“ Therese Randlkofer, eine ebenso resolute wie geschäftstüchtige Frau, hatte den Laden ihres verstorbenen Mannes Anton 1897 übernommen und zu einem der führenden Delikatessenhäuser Europas gemacht. Sie belieferte nicht nur die nahegelegene Residenz der Wittelsbacher, sondern zählte auch den Kaiserhof in Berlin sowie in der Spitze 14 weitere europäische Fürsten- und Königshäuser zu ihren Kunden.
Das Geschäftsmodell des Hoflieferanten ist heute aus der Mode gekommen, was eigentlich schade ist, denn es bietet einige wichtige Vorteile für den Händler: Er weiß genau, wer sein Kunde ist, er kennt dessen Geschmack, er weiß ungefähr, wann und wie viel er liefern muss und kann zumindest in der Regel einen etwas höheren Preis verlangen als der, den die Laufkundschaft zu zahlen bereit ist.
In der global vernetzten Wirtschaft hat das Modell des Hoflieferanten eine ungeahnte Aktualität bekommen, denn im Internet ist der Kunde wirklich König! Die Machtverhältnisse zwischen Anbieter und Abnehmer einer Ware oder Dienstleistung haben sich eindeutig zugunsten des Abnehmers verschoben. „Wir stehen an der Schwelle von einer angebotsorientierten zu einer nachfrageorientierten Wirtschaft“, schreibt der Nobelpreis¬träger Paul Krugman, und beruft sich auf die lange vernachlässigten Theorien des genialen Ökonomen John Maynard Keynes.
Die Ursachen für diese Machtverschiebung liegen auf der Hand. Dank Internet verfügt der Kunde über Informationen, die ihn in die Lage versetzen, in seiner Kaufentscheidung wählerischer zu sein als je zuvor. Seine „Machtmittel“ sind unter anderen:
– Ein globales Angebot: Da das Internet dem Fluss von Waren und Dienstleistungen so gut wie keine Grenzen setzt, kann es dem Kunden egal sein, ob sein Lieferant in München oder in Mumbai sitzt, in Hamburg oder Hongkong, in Frankfurt oder auf den Fidjiinseln. Solange die Transportkosten nicht zu hoch sind, kann er sich leisten, denjenigen Anbieter zu wählen, der in Sachen Preis und Qualität seinen Vorstellungen am ehesten entspricht.
– Direkter Draht zum Händler: Wer bereit ist, lange genug im Internet zu suchen, kann in der Regel ein Produkt direkt bei demjenigen beziehen, der es her¬stellt und muss nicht über Mittelsmänner und Zwischenhändler gehen, deren Aufschläge und Provisionen die Waren natürlich immer teurer machen.
– Totale Preistransparenz: Dank Google kann jeder mit wenigen Mausklicken sehen, wie viel die Ware oder Dienstleistung woanders kostet. Früher kannte er meistens nur die Preise der Händler in seiner Nähe. Wer keine Lust hat, selbst auf Schnäppchensuche zu gehen, kann sich bei einem der unzähligen „Preisvergleichs-Portale“ wie, www.guenstiger.de, www.ciao.com oder www.geizkragen.de eine Liste der günstigsten Anbieter in einer Region, einem Land oder auf der ganzen Welt zusammenstellen lassen und in aller Ruhe seine Auswahl treffen.
– Ein Rückkanal: Statt wie früher mehr oder weniger stumm den Sirenengesängen der Anbieter ausgesetzt zu sein, hat der Kunde heute die Möglichkeit, jederzeit in einen Dialog mit ihm zu treten, Fragen zu stellen, Kritik zu üben, zu widersprechen oder sogar ein Gegenangebot abzugeben.
Die Auswirkungen dieser Machtverschiebung sind im Handel heute überall zu spüren. Experten wie der Offenbacher Internet-Guru Ossi Urchs sprechen deshalb auch schon von „Vertrieb 3.0“ – eine neue Form des Wettbewerbs, in der nicht mehr der Anbieter, sondern die Abnehmer von Waren und Dienstleistungen die treibenden Kräfte sind.
Mit dem vielzitierten „Social Web“ wird das „Mitmachen“ sogar zu einer Art Lifestyle-Entscheidung, glaubt geworden: Es ist chic, selbst aktiv zu werden. Glaubt Dr. Martin Oetting, Forschungschef der Münchner trnd AG, die er als „größte europäische Marketing-Community“ bezeichnet. Der Kunde verlasse sich immer mehr auf Empfehlungen anderer Kunden, was positive und negative Auswirkungen haben kann.
Einerseits: „Händler realisieren messbar höhere Käufe, wenn der Kunde über eine Facebook Empfehlung kommt“, behauptet Oetting. Mundpropaganda sei das beste Mittel sei, um als Händler erfolgreich im Markt von Morgen zu agieren: „Guten Tipps von Freunden glauben wir mehr als jeder Hochglanzwerbung. Andererseits besteht das Risiko, dass unzufriedene Kunden ihre Kritik heute blitzschnell einem großen Kreis an potenziellen Abnehmern kommuniziert und damit eine Art Online-Boykott eines Händlers erzeugt. „Davor haben viele Händler Angst“, gibt Oetting zu, „aber es führt trotzdem kein Weg daran vorbei: Der Kunde steht heute wirklich im Mittelpunkt, und von dort lässt er sich nicht mehr verdrängen.“
Das wirksamste Mittel gegen kritische Kundenstimmen sei es ohnehin, aktiv auf denjenigen zuzugehen und zu versuchen, eine einvernehmliche Lösung zu finden, meint Klaus Eck, in München ansässiger Kommunikationsberater und Bestseller-Autor („Transparent und glaubwürdig“, Redline-Verlag). Eigentlich nichts Neues, davon ist er überzeugt: „Das ist klassisches Beschwerdemanagement, das muss ein guter Händler drauf haben.“
Dass Facebook & Co. In Zukunft sich immer mehr zu einem interessanten Vertriebskanal für Mittelständler entwickeln werden, davon ist Dr. Björn Schäfers überzeugt. Der Geschäftsführer von Smatch.com, einem Tochterunternehmen der Otto Gruppe, betreibt eine Art Einkaufsgemeinschaft im Netz, das auf Facebook angeblich über zwei Millionen Produkte und mehr als 10.000 Marken von 700 teilnehmenden Händlern, darunter viele Mittelständler, bereit hält. Wer nach einem bestimmten Produkt sucht, kann das Ergebnis der Recherche nach der Beliebtheit bei anderen Kunden filtern und sich mit der Zeit ein persönliches Netzwerk von Nutzern mit ähnlichem Geschmack aufbauen, die sich gegenseitig beim Online-Kauf beraten: Beim Shoppen gibt’s das Wir-Gefühl gratis dazu.
„Smatch.com verkörpert ein neues emotionales Einkaufserlebnis“, sagt Schäfers: Als Nutzer könne man sich von anderen inspirieren lassen. „Diese Kombination aus rationalem und emotionalem Einkauf finden unsere Kunden besonders toll“, ist er überzeugt. Auch das Feedback der Partnerunternehmen sei bislang „durchweg positiv, vor allem weil Händler in aller Regel messbar höhere Kaufwahrscheinlichkeiten realisieren, wenn der Kunde über eine Facebook Empfehlung kommt.“
Als „Social-Shopping“ bezeichnen Experten diese neuen Form des gemeinsamen Einkaufs. Andere Shopping-Suchmaschine wie Twenga listen nicht nur Tausende von Online-Händler auf, sondern setzen wie Smatch.com auf den sozialen Effekt: Freunde können ihre Meinung nebst Produktbeschreibungen oder Foto zu einem gewünschten Produkt äußern und Ratschläge per E-Mail, Twitter oder Facebook senden.
Wie das geht, zeigt das Beispiel von edelight.de. 2006 gründeten drei junge Stuttgarter die Firma mit der Idee, einen „Social Commerce-Portal“ zu schaffen. Einkaufsgemeinschaft können Trendsetter Ihre Lieblingsprodukte Millionen von kaufinteressierten Menschen empfehlen. Diese können auf Basis authentischer Empfehlungen völlig neue Produkte entdecken und bei den entsprechenden Marken und Shops kaufen. „Alle edelight-Nutzer sind dementsprechend shopping-affin, da Sie entweder aktiv Produkte empfehlen oder mit einer konkreten Kaufabsicht auf der Suche nach Produkten sind“, sagt Steffen Belitz, einer der drei Gründer.
Dieses Umfeld können Unternehmen nutzen, um ihre Produkte und Marken-Botschaften zu platzieren. Für Partnershops gibt es spezielle Werbeformen, die es dem Betreiber erlauben direkt mit den Mitgliedern von edelight.de in Verbindung zu treten und mit ihnen zu interagieren, um sie so von der Qualität oder dem Nutzen des eigenen Produktangebots zu überzeugen in der Hoffnung, dass diese eine entsprechende Empfehlung aussprechen.
„Empfehlbarkeit ist das Wichtigste für einen mittelständischen Händler oder Dienstleister“, davon ist Klaus Eck überzeugt. Doch das setzt seiner Meinung nach auch die Fähigkeit voraus, mit der neuen Transparenz des Internet erfolgreich umgehen zu können. „Unternehmer stehen in einer Öffentlichkeit, und das will erst einmal gelernt sein.“ Es verändere die Strukturen eines Unternehmens, mache es dafür aber auch erfolgreicher am Markt.
In einer wirklich kundenorientierten Wirtschaft zählen nicht mehr Marktanteile, sondern Anteile am Kunden. Wer seine Kunden am besten kennt, ihnen zuhört, den Dialog mit ihnen sucht und ernsthaft betreibt, der hat im Zeitalter von Vertrieb 3.0 die besten Karten. Im Internet ist der Kunde König: So viel ist klar. Dann allerdings lohnt es sich für den Anbieter, das Modell des Hoflieferanten nochmals gründlich zu studieren. Was diesen vor allem von anderen Anbietern unterschied, war der Grad des Wissens, das er um seinen wichtigsten Kunden besaß. Damit war er in der Lage, ein besonders hohes Maß an Kundenzufriedenheit zu erzeugen bei einer der begehrtesten Zielgruppen, die es damals gab – eine Lektion, die viele Mittelständler leider erst wieder lernen müssen.