Der Verbalausfall von Altkanzler Helmut Kohl gegen den ehemaligen SPD-Vize und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse („Volkshochschulhirn“), der in dem umstrittenen Enthüllungs Buch von Heribert Schwan und Tilman Jens, „Die Kohl-Protokolle“ öffentlich wurde, hat in mir längst verschüttete Erinnerungen wachgerüttelt.
Ich bin Kohl als junger Mann begegnet, aber was noch viel wichtiger ist: Er ist meiner Mutter begegnet. Es muss irgendwann mitte der 80er gewesen sein. Kohl stand auf dem Zenit seiner Macht. Meine Mutter war Chefin der Lehrmittelabteilung der University of Maryland in Heidelberg und dort für den Einkauf von Büchern für Studenten zuständig, die (wie ich übrigens auch) an der University College studierten. Das war ein vom US-Verteidigungsministerium unterstützter Service für GIs und ihre Angehörigen, die gerne parallel zum Wehrdienst ihr unterbrochenes Studium fortsetzen wollten. In Spitzenzeiten waren es mehr als 20.000 pro Trimester, und meine Mutter verfügte über ein Millionenbudget.
Die „U of M“ war trotzdem ein ziemlich familärer Betrieb: Der Verwaltungskopf bestand aus vielleicht drei Dutzend Angestellten, die Professoren waren meist junge Amerikaner, die nach dem eigenen Studium ein oder zwei Jahre in Europa dranhängen wollten. Und einmal im Jahr gab es eine richtige zünftige Abschlußfeier, die „Commencement Ceremony“, komplett mit Talare und Mortarboard-Hüten. Sie fand in der Audimax der altehrwürdigen Heidelberger Universität statt. Die Mitarbeiter organisierten die Festivität selbst, und meine Mutter war in dem fraglichen Jahr für die Betreuung der Ehrengäste eingeteilt worden.
Jedes Jahr bekam irgendeine bekannte Persönlichkeit den Ehrendoktor. Ich habe Bundespräsident Heinrich Lübke dort ebenso erlebt wie den US-Astronauten Neil Armstrong. Na, und dieses Mal war eben Helmut Kohl an der Reihe.
Mütterlein sah totschick aus in einem schlichten schwarzen Kostüm – sie war ohnehin bis ins hohe Alter auch äußerlich eine bemerkenswerte Frau, und sie machte ihren Job toll, begrüßte die Angekommenen, drückte ihnen das Programm in die Hand und geleitete sie zu ihren Plätzen in den vorderen Reihen des Auditoriums.
Sie war gerade mit Gästen unterwegs, da kam der Wagen mit Helmut Kohl vorgefahren. Der stieg aus, stand etwas verlegen herum, schaute vergeblich nach einem Begrüßungskomitee aus und wurde von Minute zu Minute sichtlich stinksaurer. Die Oberen der Universität waren alle mit ihren offiziellen Pflichten beschäftigt, und Mütterchen war halt gerade nicht da. Es vergingen vielleicht drei Minuten, da kam sie herangeeilt, streckte Kohl die Hand entgegen und sagte: „Herzlich willkommen, Herr Bundeskanzler!“
Kohl übersah ihre ausgestreckte Hand, schaute sie böse an und blaffte: „Was ist das denn für ein Laden hier – vielleicht eine Volkshochschule?“
Nach dieser Erfahrung halte ich das Thierse-Zitat für glaubwürdig: Der Dicke aus der Pfalz hatte eben nur einen sehr begrenzten Wortschatz. Und mit den Manieren hat man es in bestimmten Kreisen in Oggersheim offenbar auch nicht so. Es ist eben ein derbes Völkchen dort am linken Rheinufer.
Mütterchen ließ sich übrigens nicht einschüchtern, erklärte ihm, warum er kurz habe warten müssen und geleitete ihn, charmant und souverän wie immer, zu seinem Platz. Sie hat ihn auch anschließend wieder zu seiner Limousine geleitet – aber die Hand hat sie ihm zum Abschied nicht gereicht.