Mein ältester und bester Freund Ossi ist heute gestorben. Seinen Nachruf habe ich schon vor einem Jahr geschrieben. Es war das Nachwort zu unserem gemeinsamen Buch, „Digitale Aufklärung – Warum uns das Internet klüger macht“. Er war damals schon krank, und ich kann das, was uns verbunden hat, nicht besser beschreiben. Deshalb wiederhole ich es jetzt hier. Lieber Ossi: Du wirst uns allen fehlen!
Ossi Urchs und ich kennen uns ganz lange, seit alten „Playboy“-Zeiten nämlich, als wir beide zu den so genannten „Edelfedern“ des legendären Chefredakteurs Fred Baumgärtel zählten, der das Männermagazin in den 80er Jahren auf nie wieder erreichte Rekordauflagen brachte und damit sogar „Spiegel“ und „Stern“ in den Verkaufszahlen Konkurrenz machte. In den frühen 90er Jahren traf ich Ossi bei der „Redaktionsgruppe Multimedia“ der Motor Presse Stuttgart wieder, deren redaktioneller Leiter ich war und wo wir an einem spannenden Entwicklungsprojekt namens „inter@ktiv“ zusammengearbeitet haben. Damals erzählte mir Ossi von der Rockband „Greatful Dead“ und deren meist etwas in die Jahre gekommenen Fans, die alle quietschbunte Hippie-Klamotten trugen und auf dicken Harleys oder in rostigen VW-Bussen, die mit psychedelischen Szenen bemalt waren von Konzert zu Konzert pilgerten. Zwischendurch, so erzählte Ossi, würden sie sich über ein tolles neues Medium elektronische Nachrichten schicken und sich fürs nächste Konzert am Wochenende verabreden. Das Medium hieß „Internet“, und Ossi meinte, das würde eines Tages die Welt verändern. Das interessanteste an diesen „Deadhead-Foren“ aber waren die von den Fans bei den Konzerten aufgenommenen Musik-Dateien, die hier, mit Zustimmung der Band, zum freien Austausch per „FTP“ zur Verfügung standen.
Ich ließ mir auch so einen Internet-Anschluss legen und fing an, E-Mails zu schreiben und Daten per „FTP“ und später per „Gopher“ auszutauschen. Und dann kam ein paar Jahre später das World Wide Web, und die von Ossi vorhergesagte Veränderung nahm richtig Fahrt auf.
1994 begann ich, ein „Online-Tagesbuch“ im Web zu veröffentlichen – heute würden wir natürlich „Blog“ dazu sagen, aber das Wort war ja noch nicht erfunden. Und Ossi und ich trafen uns im gleichen Jahr am Vorabend der Computermesse CeBIT in Hannover in einem richtig guten italienischen Restaurant, bei Lino Venturini, dem Wirt des „Roma“, in dem auch Gerhard Schröder gerne „eine Nudel“ aß, um uns mal wieder über das auszutauschen, was sich im vergangenen Jahr im Bereich der Neuen Medien so getan hatte. „Und ein bisschen was essen“, wie Lino in seiner unvergleichlichen Art immer einleitend sagt.
Ossi lebte damals gerade in der Zukunft – er war nämlich als „Minister for Tomorrow“ für die Zigarettenmarke Philip Morris überall in Deutschland mit seinen langen, rotblonden „Dreadlocks“, die als „Rastalocken“ einen unpassenden Eingang in die deutsche Sprache gefunden haben, und seinen coolen Sprüchen auf Plakatwänden präsent. Eigentlich lebt er ja bis heute in der Zukunft und kommt ab und zu zurück, um uns Daheimgebliebenen zu erzählen, wie es einmal sein wird – so meinte jedenfalls unser Freund Paul Saffo einmal. Aus dem Abendessen bei Lino wurde eine Tradition, die wir seitdem jedes Jahr pflegen. Wir haben an diesen Abenden bis in die Puppen debattiert, anfangs ruhig und gesittet, später unter dem Einfluss von Linos wunderbaren Rotweinen immer heftiger, und haben dabei immer verwegenere und fantastischere retorische Höhenflüge gewagt. Wir haben die Probleme der Welt bei Lino am Tisch gelöst, nur konnten wir uns meistens am nächsten Morgen nicht mehr ganz genau erinnern, wie die Lösung aussah. Was blieb ist eine tiefe Freundschaft und eine Hochachtung vor der Inspirationskraft des jeweils anderen, die uns zu Einsichten führte, auf die wir alleine vielleicht nie gekommen wären. Ich hoffe jedenfalls, dass Ossi das auch so sieht. (Tut er. ou)
Die Idee, diese Erkenntnisse in Buchform zu gießen, kam uns relativ früh, aber wir haben das Projekt fast 20 Jahre vor uns hergeschoben. Wir hatten schließlich beide viel zu tun. Ossi gründete eine Agentur und versuchte sich als Online-Unternehmer. Ich schrieb 1999 mein erstes Buch, „Erfolgsfaktor Internet“, das ein Bestseller wurde und mir viele Anfragen als Gastreferent und Keynote Speaker einbrachte. Ossi war ohnehin schon auf den Bühnen dieser Welt unterwegs, und so kreuzten sich unsere Wege manchmal auf Events, für die wir beide gebucht worden waren, und wir nutzten immer die Gelegenheit, unseren unterbrochenen Dialog fortzusetzen.
Es war Martin Janick vom Hanser-Verlag, der uns endlich den letzten Anstoß gab. Ich hatte mit Martin schon mehrere Bücher gemacht, und er war ganz scharf darauf, Ossi als Autor zu gewinnen. Der zierte sich aber noch ein bisschen, weil er eigentlich für so was keine Zeit habe, wie er sagte. Ich erzählte Martin davon, dass Ossi und ich schon lange über ein gemeinsames Buchprojekt nachdenken würden. Und Martin fand die Idee toll, denn dann müsste Ossi ja nur die halbe Arbeit machen…
Hätte er gewusst, was er damit angerichtet hat, dann würde er vermutlich zweimal nachgedacht haben, denn es stellte sich heraus, dass ein gemeinsames Buch doppelt so viel Arbeit macht. Es gibt grundsätzlich eigentlich nur zwei mögliche Vorgehensweisen. Man kann die Kapitel aufteilen, und jeder schreibt für sich allein, doch dann besteht die Gefahr, dass ein solches Buch stilistisch und gedanklich auseinanderklafft. Die Gefahr ist besonders groß, wenn zwei so unterschiedliche Charaktere wie Ossi und ich aufeinander treffen. Er ist das seltene und seltsame Produkt der Frankfurter Schule und der indischen Philosophie, die er auf langen Reisen durch den Subkontinent bei weisen Lehrern studiert hat. Ich selbst bin trotz mehr als 50 Jahren in Deutschland ein ziemlich typischer Amerikaner geblieben, der sich dem Thema Technik relativ spielerisch-unbeschwert nähert und mit einem unbeirrbaren Optimismus nicht nur in die digitale Zukunft blickt.
Wir haben das Problem ganz einfach gelöst, indem wir uns nämlich an unsere langen Gesprächsabende bei Lino erinnert und beschlossen haben, das Buch im Sinne eines neoplatonischen Dialogs tatsächlich gemeinsam zu schreiben. Dazu waren mehrere, manchmal tageslange Gesprächsrunden nötig, bei denen wir die jeweiligen Themen hin und her gewendet haben und uns langsam einer gemeinsamen Position genähert haben. Das Tonband (in Wirklichkeit ein modernes digitales Aufnahmegerät) lief mit, und wir haben das Ergebnis abgeschrieben, redigiert, gekürzt, ergänzt, nachrecherchiert und schließlich gemeinsam verabschiedet.
Es begann mit dem, was wir unsere „Spessarter Gespräche“ nennen, nämlich in Ossis Wochenendhaus bei Steinau an der Straße. Es folgten die „Lungauer Gespräche“ in St. Michael im Lungau, wohin meine Frau und ich im Herbst 2012 gezogen waren, um unseren Lebensabend inmitten einer der schönsten Berglandschaften der Alpen zu genießen. Diese Dialoge klappten auch ganz prima, und wir waren Ende 2012 schon ziemlich weit. Genau genommen war das Buch zu zwei Dritteln fertig, aber es wartete noch eine Menge Arbeit auf uns, zum Beispiel Kapitel 3 („Denken in Echtzeit“) oder das abschließende Kaptel 11 („Selber denken!“) mit seinem Aufruf zu einem gesellschaftlichen Dialog, der Werte für eine echte Digitale Aufklärung schaffen soll. Beide Kapitel haben in dem Buch eine Schlüsselstellung, aber genau als wir sie angehen wollten, rief mich Ossi an und sagte mir, dass die Ärzte bei ihm Krebs diagnostiziert hätten. Er falle deshalb therapiebedingt für die nächsten Monate komplett aus. Dass er schwerkrank war und die durchaus reale Gefahr bestand, dass wir das Buch vielleicht nie würden zu Ende schreiben können, das musste er nicht dazu sagen.
Wir haben Martin Janick angerufen, um ihm die Hiobsbotschaft zu erzählen, und er hat wunderbar reagiert. Ossi solle sich jetzt bloß keinen Kopf machen, sondern erst mal gesund werden, das sei das Wichtigste, dann würden wir weitersehen. Natürlich bleibe der Vertrag mit uns bestehen, und in ein paar Monaten könnten wir ja schauen, was zu machen sei.
Es dauerte ein gutes halbes Jahr, und alle „normalen“ Abgabetermine und Produktionszeitpläne waren längst Makulatur, als Ossi nach der – erfolgreichen – sechsten Chemorunde mit seiner Frau nach Salzburg flog und wir uns im Alten Forsthaus in St. Michael im Lungau zum Endspurt hinsetzten. Dieses letzte „Lungauer Gespräch“ und die darauf unmittelbar umgesetzten Kapitelbeiträge bilden die vielleicht wichtigsten Textpassagen dieses Buchs, denn sie strahlen zumindest für mich eine besondere Intensität der Argumentation und der logischen Herleitung aus, die auf mich fast ein bisschen unheimlich wirkt. Ich hatte jedenfalls beim Lesen manchmal eine leichte Gänsehaut. Ja, lieber Ossi, das war wirklich Denken in Echtzeit – so wie du es als Forderung an die digitale Gesellschaft und seine Bewohner immer wieder formuliert hast.
Wir haben dieses Buch eigentlich in allererster Linie für uns selbst geschrieben. Ich finde, das sind immer die besten Bücher. Das mag etwas egoistisch klingen, aber es lässt sich leider nicht leugnen, dass für mich – und ich denke auch für Ossi – dem Schreiben ein gewisser Selbstzweck innewohnt. Wir mussten das alles einfach mal loswerden, und wenn jemand das gut findet und vielleicht daraus für sich verwertbare Erkenntnisse oder gar eine Art Lebensorientierung ziehen kann, dann ist das gut so. Aber wenn jemand das Buch schlecht findet oder nicht versteht, dann ist das zwar schade, aber es bleibt am Ende sein Problem. (Auch wenn wir uns beim nächsten Mal natürlich bemühen werden, noch überzeugender zu argumentieren.) Dies ist schließlich auch ein Buch gegen den grassierenden Kulturpessimismus und die tiefsitzende Technophobie in diesem Land, und da ist es unvermeidlich, ja sogar durchaus beabsichtigt, dass wir auf ein paar Zehen getreten sind.
Der „Online-Guru“ Ossi hat zwar seine Dreads lassen müssen im Kampf gegen den Krebs; im Moment, als ich diese Zeilen schreibe, sieht man ihm die Folgen der Chemotherapie deutlich an. Aber seine Augen blitzen wie immer und sein Kopf kommt nicht nur mit, sondern ist den meisten Kulturpessimisten allemal meilenweit voraus. Ich darf mit diesem Buch meinem Ruf als „Wanderprediger des deutschen Internets“, wie mich ein Buchkritiker in der „Süddeutschen“ mal nannte, nochmal ein paar Bergpredigten hinzufügen. Wenn ein Buch 20 Jahre lang gereift ist, dann darf man als einer der Autoren schon eine gewisse Gelassenheit an den Tag legen. Es hat lange gedauert, und am Schluss war es ziemlich hektisch, aber ich würde keine Sekunde des „Making of“ vermissen wollen.
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