Wenn die Telefonistin der Kreissparkasse Göppingen in die Warteschleife schicken muss, beschwert sich heute keiner mehr. Im Gegenteil: Die meisten können gar nicht lange genug warten. Denn statt der üblichen Synthesizer-Musik erklingt neuerdings heiße Klaviermusik aus der Muschel, gespielt vom Chef selbst: Vorstandsvorsitzender Jürgen Hilse und sein Sohn haben die fetzigen Töne selbst komponiert und eingespielt.
„Bei mir haben sich Kunden beschwert, weil sie so langsam die ‚Kleine Nachtmusik‘ vom Synthesizer nicht mehr hören konnten,“ erklärt der Banker, der in seiner Freizeit Dixieland-Jazz spielt. „Da habe ich mich mit meinem Sohn ans Klavier gesetzt und etwas Neues eingespielt. Das Band haben wir an Siemens geschickt mit der Bitte, uns für die digitale Vermittlungsanlage eine Diskette davon zu machen.“ Seitdem erklingen die selbstgemachten Töne auf allen Telefon-Kanälen der 87 Sparkassenfilialen – zum Vergnügen von Mitarbeiter und Kunden.
Der Fall des schwäbischen Bankhauses ist leider noch eine Ausnahme in der deutschen Telefonlandschaft. In aller Regel kommt zum Frust durch lange Warterei noch der Ärger über nervenaufreibendes Computergedudel. Dabei macht Telefon-Musik durchaus Sinn, soll sie doch unvermeidliche Pausen füllen und dem Kunden das sichere Gefühl geben, weder aus der Leitung gefallen noch vom Gegenüber beim Verbinden schlicht vergessen worden zu sein.
Die sogenannte „music on hold“ (MOH) gehört zur Grundausstattung der Telefonanlagen aller führenden Hersteller privater Kommunikationssysteme in Deutschland. Die Anzahl der angebotenen Musiktitel variiert erheblich: während die Deutsche Telekom einen Katalog von 30 Melodien im Repertoire hat – von La Cucaracha bis Bach – bietet Siemens nur drei Varianten an: die kleine Nachtmusik, den Schefflertanz und eine eigens für die Highcom-Generation entwickelte Melodie. Alcatel und DeteWe haben 50 Standard-Titel im Angebot und in der Regel gibt sich der Kunde mit irgendeiner Melodie zufrieden.
Die wenigsten Firmen nutzen die MOH gezielt als freundliche Visitenkarte oder gar als akustisches Markenzeichen. Nur 30-40 Prozent der Kunden entscheiden sich bisher für eine individuell ausgewählte Musik in der Warteschleife.
Die Empfangsdamen der Krone AG in Berlin sind da kritischer. In einer demokratischen Abstimmung entschieden sie sich für den Telekom-Standard „Elise“, und zwar weil er „am neutralsten, am beruhigensten und am eingängisten ist“. Zuvor hatten die Damen regelrecht Verhaltensforschung betrieben. „Wir hatten ‚Don’t worry, be happy‘ in der Warteschleife, aber die Resonanz war nicht so gut. Bei ‚Elise‘ sagen die Anrufer schon mal: ‚Ach, is det schön!'“, erzählt eine Telefonistin von Krone.
So schön der Telekom-Standard auch ist – für Verwirrung kann er dennoch sorgen. Der Mensch nimmt Musik nicht nur bewusst wahr. Sensoren im Gehirn verbinden die musikalischen Reize mit Bildern und Gefühlen, die in dieser Kombination gespeichert werden. Der Anrufer verbindet etwa die Schubert-Melodie mit der Krone AG und verknüpft dieses Bild mit seinen geschäftlichen Absichten. Trifft der Kunde jedoch in verschiedenen Warteschleifen auf dieselbe Melodie, weicht die gewünschte Wirkung einer lästigen Langeweile und dem Eindruck allgegenwärtiger Beliebigkeit – zum Schaden des Unternehmens.
Landet ein Anrufer etwa in der Warteschleife des führenden deutschen Schrauben- und Dübelherstellers Würth in Künzelsau macht sich schnell Unbehagen breit: die kosmische Stille der digitalen Telefonanlage vermittelt den Eindruck, von der Welt vergessen worden zu sein. „Wir haben schon oft darum gebeten, eine Melodie einzuspielen. Aber der Boss will das nicht“, beklagt eine Telefonistin in der Zentrale. Der Firmenchef muss schließlich nicht hören, was sich in seiner Telefonleitung abspielt – oder eben gerade nicht abspielt.
Ähnliches Desinteresse am Wohlergehen des Anrufers zeigt das Kanzleramt: Totenstille auch in der Warteschleife der Bonner Regierungszentrale. Ein anderes Extrem ist das penetrante elektronische Glockengeläut etwa in der Warteschleife des Münchener Abschleppunternehmens Abtmayr. „Des is uns ja wurscht, ob da a Musi iss oder net“, meinte ein Mitarbeiter der Firma.
Dem Anrufer ist das ganz und gar nicht wurscht. Ob Totenstille oder synthetische Glocken – die Warteschleife wird zur Tortur und manch einer legt unverrichteter Dinge auf.
Um die psychologische Wirkung von Musik wissen auch die Werbestrategen großer Konzerne. Sie setzen die Melodie nicht nur als Beruhigungspille für ungeduldige Anrufer ein, sondern entwickeln sie zum unverwechselbaren Firmenjingle. Großunternehmen wie Lufthansa oder Opel machen es mit ihren akustischen Corporate Identity-Konzepten vor: Die Joe Cocker-Variante „We lift you up where you belong“ erklingt sowohl in den Kino-Werbespots als auch in der Telefon-Warteschleife und weckt so das von Lufthansa gewünschte Fernweh des Kunden. Opel ließ für jedes Wagenmodell einen speziellen Jingle komponieren. Aber auch mittelständische Unternehmen haben die Möglichkeit, mehr als nur „La Bamba“ in ihren Telefonanlagen erklingen zu lassen.
Zwar spielt der Bereich der individuellen „music on hold“ für die Anbieter der Kommunikationssysteme „keine marktentscheidende Rolle“, so der Pressesprecher der Deutschen Telekom, Walter Genz. Aber Zulieferfirmen, die sich auf individuelle MOH spezialisiert haben, stehen dem interessierten Käufer jederzeit zur Verfügung. Ist dem Kunden das Angebot etwa der Siemens AG zu unspektakulär, dann vermittelt der Elektrokonzern ihn entweder an die Hildener Firma Wolfgang Beyer KG oder an Speech Design in Germering bei München. Hier kann er sich im professionellen Tonstudio seine Wunschmusik einspielen lassen. Das geht ganz einfach: die gewünschte Musik wird auf einer gewöhnlichen Kassette eingereicht und der Kunde erhält sie in CD-Qualität zurück.
Die Beyer KG bietet hier die EPROM-Lösung an, bei der die Musik-Titel fest und unveränderbar auf einen Chip gespeichert sind. Heinz Blank, Tontechniker bei der Beyer KG, kann ein Lied von der Phantasie seiner Kunden singen. So ließ sich das „Hotel zur Mühle“ das passende „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“ einspielen. Ein weiteres Beispiel für Kreativität ist der Chef der Göppinger Stadtsparkasse: Er komponierte die MOH selber. Eine mittelständische Bäckerei gab das Kinderlied „Backe, Backe, Kuchen“ für die Warteschleife in Auftrag. „Meine Tochter hat mir dafür ihre Kinderliederkassette geliehen. Allerdings ist die GEMA-Frage noch nicht geklärt“, meint Blank.
Die Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA) kassiert für jede öffentlich gespielte Melodie, die zu ihrem Repertoire gehört – also auch für bekannte Titel in der Warteschleife. Zum GEMA-freien Repertoire gehören neben klassischer Musik und Volksliedern all die Melodien, die durch Verjährung nicht mehr urheberrechtlich geschützt sind. Die Beyer KG und Speech Design bieten den Herstellern der Telefonanlagen deshalb GEMA-freie Standards wie „Elise“ oder Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ an. Wer eine andere Melodie wünscht, muss eventuell mit jährlichen GEMA-Pauschalkosten von 250,20 Mark bei bis zu 40 Nebenstellen rechnen, oder Geschick beim Komponieren beweisen. „Klauen tut jeder, auch in der Pop-Branche“, sagt Heinz Blank. Die Kunst liegt darin, eine Musik zu komponieren, „die sich anhört wie ein bekannter Titel, aber keiner ist.“
Die Kostenunterschiede bei individuellen Einspielungen sind enorm. „Die billigen EPROM-Aufnahmen, die die Telekom für 250 Mark anbietet, sind genauso Schrott, wie die GEMA-freien Musiktitel“, meint der Vertriebsleiter Süd der Firma Speech Design, Siegfried Liebchen. Speech Design setzt auf veränderbare MC- oder CD-Einspielungen für individuelle Warteschienen mit Ansage, auch wenn die Aufnahme etwa 3.000 Mark kostet.
Liebchen hält den Preis für eine gute Investition. „Wenn Sie heute eine Telefonanlage für 30.000 Mark kaufen, warum sollten Sie nicht noch ein paar Tausend drauflegen für ein flexibles und wirkungsvolles Marketingprodukt?“ Der Vertriebsleiter ist sich sicher, dass „in zwei bis drei Jahren die individuelle Warteschiene zum Marketingmix jedes Unternehmens“ gehören wird. Speech Design hat für diesen Bereich ein Gerät entwickelt, mit dem der Unternehmer seine eigenen CDs bespielen kann. Er ist so in der Lage nach Belieben die Ansage und die Musik zu wechseln, ob zu Ostern, zu Weihnachten oder je nach Angebot. Ziel ist es, so Liebchen, „dem Kunden die höchstmögliche Flexibilität zu bieten.
Bisher fehlt noch das Bewusstsein der Marketingleitungen für die Chancen, die in der „music on hold“ liegen.“ Mit einem Einsatz von etwa 2.800 Mark kann jedes Unternehmen mit Hilfe des Digitalisierungsgeräts „Mozart“ das Telefon als Mittel der ‚Corporate Communication‘ einsetzen. Zu dem Thema MOH und Corporate Communication hält der Vertriebsleiter von Speech Design regelmäßig Vorträge vor Vertretern von Siemens, Alcatel, DeTeWe und Telenorma. „Die Lawine bei den „music on hold“-Standards ist längst ins Rollen geraten. Was aber die individuelle Musik in der Warteschleife betrifft, muss noch viel für das Bewusstsein getan werden.“
Dabei bietet die Warteschleife gerade im Dienstleistungsbereich ungeahnte Möglichkeiten: Preisknüller und Aktionswochen können je nach Bedarf angekündigt werden. Die Handhabung der Aufnahme und Einspielung ist ähnlich leicht wie bei einem gewöhnlichen Kassettenrekorder. Eine passende Musik wird dem Text in einer Endlosschleife unterlegt und das perfekte Angebotspaket macht müde Kunden munter.
So werben heute schon Autowaschanlagen für den speziellen Wochenendtarif und Reisebüros für das aktuelle Last-Minute-Angebot. Die attraktive Musik im Hintergrund sorgt dafür, dass der Anrufer nicht sofort wieder auflegt. Spätestens um die Jahrtausendwende haben die GEMA-freien Standards wohl „als alter Hut“ ausgedient. Dann wird jedes Unternehmen, so die Hoffnung von Speech Design, begriffen haben, welche unbegrenzten Marketingmöglichkeiten die Melodie in der Warteschleife ihrer Telefonanlagen bietet. Vielleicht ist bis dahin die Telefonistin im Berliner Bundeskanzleramt die letzte, die dem ungehaltenen Anrufer sagen muss: „Tut mir leid, bei uns läuft gar nichts!“
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