Über Geschmack lässt sich trefflich streiten, egal wie es im Sprichwort heißt. Ein anderes lautet ja immerhin: “Wat den een sin Uhl is den annern sin Nachtigall”. Und wer Plürre trinken will, den soll man lassen, oder?
Nein, scheibt Biance Bosker in der heutigen Ausgabe der New York Times. Niemand muss mehr Industrieabfall aus der Flasche trinken, nur weil er sich den Preis eines ordentlichen Weins nicht leisten kann (oder weil er den Unterschied nicht kennt.) Die Ironie sei, dass der Preisabstand zwischen billigen Weinen und einem Bordeaux Premier Grand Cru Classé zwar noch nie so groß gewesen ist wie heute, gleichzeitig sind aber beide qualitätsmäßig noch nie so nahe beieinander gewesen. Und Schuld daran ist das, was Weinkenner schaudernd als „Frankenwein“ bezeichnen.
Nein, das ist nicht der Sylvaner, der in und um Würzburg wächst, sondern chemisch manipulierter, „hochgepäppelter“ Wein, der vor allem in Amerika mit seinen vergleichsweise laxen Weingesetzen immer häufiger im Labor und immer seltener im Weinkeller kreiert wird.
Nun ist Frau Bosker kein Barbar. Sie ist sogar studierte Sommelière und schreibt regelmäßig sehr kluge und fachkundige Geschichten über Spitzenweine. Aber was sie da unter der Headline „Ignore the Snobs, Drink the Cheap, Delicious Wine“ abgelassen hat, zwingt mich als Weinkenner doch, tief zu schlucken.
Die gute Biance war neulich zu Besuch in der Weinfabrik von Treasury Wine Estates im Nappa Valley und hat dort die Zukunft gesehen, die für sie zunächst wie ein Alptraum klang. Treasury Wine produziert einige Spitzenmarken wie Penfolds Grange in Australien oder Stag’s Leap in Kalifornien. Aber sie machen eben auch Massenwein, und dort vollzieht sich, wie Frau Bosker berichtet, gerade eine Geschmacksrevolution, die man am besten beschreiben könnte als: „Volk kriegt, was Volk will.“
Bei Treasury treten regelmäßig Panels von Konsumenten zusammen, die nach ausführlichem Tasting zu Protokoll geben, was ihnen wirklich schmeckt. Und das ist meistens nicht das, was die Weinkenner und Weinprofis mögen, die gewohnt sind, uns Normalsterblichen zu sagen was gut für uns ist. Und wenn sie dem Volk ins Maul geschaut haben, gehen die Weinmacher von Treasury hin und bauen ihnen genau das, was sie haben wollen.
„Es gibt keine Weineigenschaft, die sich heute nicht ingenieurmäßig herstellen lässt“, resümiert Frau Bosker. Ist Ihnen der Rote zu tanninig? Haben wir gleich: Einfach etwas Eiweiß drunterrühren und abseihen. Der Weiße ist zu grün? Ein Griff in die Schachtel mit dem Fischblasengranulat, und schon schmeckt er süffig. Wie, Sie möchten, dass ihr Chardonnay wie Vanillepudding schmeckt. Dazu braucht man kein teures Fass aus Limousineiche. Einfach eine Handvoll Eichenstaub in den Stahltank, und schon könnte man meinen, der Wein sei jahrelang im Holz gelagert.
Nun, schon die alten Römer kannten den Trick mit dem Eiweiß und viele andere mehr. Blei war zum Beispiel ein beliebter Zusatz, weil er den Wein angeblich haltbar machte (und den Trinker über Zeit an Bleivergiftung eingehen ließ, weshalb, so eine beliebte Theorie, die reiche römische Oberschicht irgendwann degenerierte und ausstarb, denn nur sie konnten sich die teuersten Tropfen leisten; das öffnete den Germanenstämmen Tür und Tor, und die Römer sind heute alte römische Geschichte). Und viele der Sitten und Gebräuche der Amerikaner sind auch in Europa legal und weit verbreitet. Schönungsmittel wie tonhaltige Mineralerden, zum Beispiel Bentonit, Kieselsol oder Kaolin („Porzellanerde“), sind auch bei unseren Winzern Teil des Handwerks.
Was mich an den Artikel aber am meisten überraschte war die Selbstverständlichkeit, mit der heute in der Weinbranche Produkte zusammengebaut werden, die dem Mann auf der Straße schmecken sollen, und zwar ohne Rücksicht auf die Nerven oder den Geschmack der Weineliten. Wenn du einen Wein willst, der nach Root Beer schmeckt – bitte sehr! Hauptsache es klingelt in der Kasse.
Ich denke, das Ganze lässt sich unter der Rubrik „Demokratisierung“ abheften, und das ist heute wahrscheinlich der größte Trend überhaupt in der Ernährungsbranche. Da alles beliebig umformbar ist, kann man seine Produkte quasi dem Kunden auf den Leib schneidern. Sie mögen Apfelsaft, der nach dem gleichen Kunstaroma riecht wie Apfelshampoo oder Toilettenreiniger? Hey, wenn Sie noch nie einen richtigen Apfel gegessen hast, das können Sie doch gar nicht wissen, wie er schmecken oder duften sollte, also kaufen Sie das, was Sie kriegsen – und es schmeckt!
Ich habe über dieses Phänomen an anderer Stelle schon berichtet, nämlich die Demokratisierung der Restaurantkritik, an der TripAdvisor die Hauptschuld trägt (Die Restaurantkritik als Prosa-Rülpser). Dort sind fachkundige Beurteilungen der Küchenleistung, wie ich sie als Restaurantkritiker für den Feinschmecker oder den Playboy zu schreiben bemüht war, unerwünscht: Das einzige Bewertungskritierium ist, ob es den Leuten gefallen hat. Und wenn sie gerne Müll essen und anschließend dem Lokal dafür vier Sterne zgeben, dann ist das eben die Nummer eins in dieser Stadt – Punkt! Leute, fresst Scheiße – zehn Billionen Fliegen können sich nicht irren…
Man kann diese Entwicklung schade oder schön finden – es kommt nur auf den Standpunkt an. Frau Bosker jedenfalls scheint die Seiten schon gewechselt zu haben. Und sie macht sich auch noch lustig über ihre Kollegen von der Oenophilenfraktion, wenn sie schreibt: „Was die als ‚schlechten‘ Wein bezeichnen schmeckt in Wirklichkeit gut, oder jedenfalls meinen das viele Weintrinker. Und was ist daran so schlecht?“ Wein trinke man schließlich zum Vergnügen, und diese Weine für dMassen seien so etwas wie Stützräder auf einem Fahrrad: Immerhin erlauben sie Leuten, Wein zu konsumieren, die es sonst vielleicht nie getan hätten.
War da nicht etwas von wegen Wein und Wahrheit?
Chapeau, Frau Kollegin! Sie haben eine ganze Zukunft ieinen Spiegel vors Gesicht gehaten, die ihr Leben früher dem Erreichen höchster Geschmacksideale gewidmet haben. Nur soll es halt heute der falsche Geschmack sein. Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich darüber auch in Zukunft gerne mit Ihnen streiten möchte…