Da fliegen sie hin…
Wenn mich einer schon mal als Vortragsredner erlebt hat, dann kennt er das Beispiel vom Internet-Kühlschrank, denn ich erzähle es jedes Mal, wenn ich irgendwo auf der Bühne stehe. Falls nicht: Der Internet-Kühlschrank hat einen berühungsempfindlichen Bildschirm, über den er sich programmieren lässt, damit er alles, was man so braucht – Butter, Milch, Eier – im Supermarkt um die Ecke bestellen kann. Die Dinger gibt es schon lange, zum Beispiel den Samsung Wireless ICE Pad Refrigerator, und die Auguren schwärmen schon vom Anbruch der Ära des „Internet of Things“.
In Wirklichkeit sind die meisten Internet-Kühlschränke aber nur Küchengeräte mit einem angeflanschten Tablet-PC, und die Hausfrau verwendet sie, um zu surfen oder E-Mail zu ziehen, während sie darauf wartet, dass der Braten fertig ist. Nicht wirklich aufregend…
Aber vielleicht wird der Internet-Kühlschrank demnächst seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt werden, nämlich als Ersatz für Kochbücher.
Julia Moskin macht sich in den New York Times Gedanken darüber, dass die Tage bald vorbei sein könnten, in denen man in einem teig- und fettverschmierten Wälzer nach Omas Rezept für Linseneintopf blättern musste. Ja, Koch-Apps gibt es schon eine Weile, aber sie waren bislang auf den winzigen Bildschirm des Smart- oder iPhones beschränkt, also nur begrenzt für die Küchenpraxisgeeignet. Und den iPad möchte man im Grunde auch nicht mitnehmen in die Küche, denn wer weiß, was passiert, wenn man versehentlich das heiße Pasta-Wasser drüber ausgießt?
Aber so ein Bildschirm am Kühlschrank, das hätte doch was. Bei uns klebt da heute nur eine Ansammlung von mehr oder weniger putzigen Kühlschrankmagneten, die wir immer aus dem Urlaub mitbringen.
Nebenbei: Als ich soeben „Kühlschrankmagnet“ bei Google eingab, erfuhr ich bei Wikipedia, dass ein gewisser William Zimmermann aus St. Louis (Missouri) in den frühen 1970ern als erster ein Patent auf kleine bunt kartonierte Magnete angemeldet hat, die „zur Dekoration oder zur variablen Befestigung von Notizzetteln“ geeignet waren. Muss man das Internet nicht einfach lieben?
Jedenfalls sind laut Frau Moskin ein paar Kochbuchschreiber und Buchgrafiker damit beschäftigt, das Kochbuch von morgen zu entwickeln – und es wird natürlich erstens digital sein und zweitens völlig anders aussehen als die Vorgänger, die auf toten Bäumen gedruckt werden.
Auf der Homepage von The Geometry of Pasta von Star-Designer Caz Hildebrand und Jacob Kennedy vom Londoner Gourmetrestaurant Bocca di Lupo zum Beispiel flattern Farfalle wie leibhaftige Schmetterlinge über den Bildschirm. Per Mausklick gelangt man dann zum passenden Rezept, zum Beispiel Coniglio all’ischitana (einer meiner italienischen Lieblingsessen!). Ziel des Ganzen ist es angeblich, „die Wissenschaft, Geschichte und Philosophie hinter den spektakulärsten Pasta-Gerichten aus ganz Italien zu offenbaren“, wie die Autoren in nicht gerade typisch britischem Understatement behaupten.
Das Witzigste aber ist, dass dieser angebliche Kochbuch-Killer selbst als Buch erhältlich ist, 288 Seiten dick und £14,99 teuer. Der Punkt ist aber ein ganz anderer: Projekte wie diese weisen den Weg in eine Zukunft, in der Rezepte grundsätzlich animiert sein werden und das Nachkochen damit zum Kinderspiel. Schon heute ist ja YouTube voll von Koch-Videos. Warum also nicht auch Koch-Apps?
Genau das haben sich Bob Huntely, Geoffrey Drummond und Chris Howard vorgenommen, als sie 2010 die Firma CulinApp gründeten. „Dies ist der perfekte Zeitpunkt, um neue Technologie in die Küche zu bringen“, behaupten sie. Erstens überschlagen sich die Verkaufszahlen von iPad & Co. Und zweitens gibt es ihrer Meinung nach zwei wichtige Trends in der Gourmet-Szene, die diese Techn-Offensive treiben: Die wachsende Zahl von ambitionierten Hobbyköchen sowie die vielen Starköche, die wie Pilze aus dem Boden zu wachsen scheinen.
CulinApp will beide zusammen bringen, indem sie es den Kochlöffel-Promis ermöglichen, schnell und einfach animierte elektronische Kochbücher zu erstellen und diese als App an die Tablet-Gemeinde zu vertreiben. James Beard und Dorie Greenspan – die in Amerika in etwa den Status von Johan Lafer und Sarah Wiener haben, sind schon mit an Bord, weitere Sterneköche sollen folgen.
Online-Rezepte mögen nicht gerade neu, aber die Kombination aus Internet und Mobilität könnte dem Ganzen eine neue Qualität geben – etwas, das wir ja auch in anderen Bereichen beobachten, von Kundendienst bis Industriefertigung. In der Regel gibt es bei einem solchen Generationswechsel Gewinner und Verlierer, und die Kochbuchverlage könnten die sein, die diesmal bluten müssen. Ist das Kochbuch auf Papier ein Auslaufmodell? Ich sag’s ja ungern, zumal ich ja selbst ein kleines Regal damit füllen kann (mein „Sommerdrinks“ bei Gräfe und Unzer ist nach wie vor das meistverkaufte Cocktailbuch Deutschlands, wie mir das „Börsenblatt des deutschen Buchhandels“ vor einiger Zeit bestätigte).
Aber es muss einen schon bedenklich stimmen, wenn eine so konservative Institution wie das Culinary Institute of America sich gezwungen sieht, mit einer jahrzehntealten Tradition zu brechen: Angehende Küchenmeister, die am CIA zum Studium antreten, erhalten seit 1962 neben Chefhut, Küchenkittel und Kochmesser-Set eine Ausgabe des renommierten Lehrbuchs „The Professional Chef“ [http://itunes.apple.com/us/app/the-professional-chef-by-culinary/id473451019?mt=8]. Ab Juni 2012 werden sie einen iPad brauchen, denn dann gibt es den Küchen-Wälzer nur noch elektronisch – als App…