Sie hieß Silvaine und war das schönste Mädchen, das ich jemals gesehen habe. Wir lernten uns in dem Losmen kennen, in der wir beide 1980 an der Nordküste von Bali abgestiegen waren. Ein Losmen ist eine simple Herberge für Reisende, die nicht viel Geld haben. Unserer hatte kleine Zimmer mit einem schmalen Bett und ein paar Nägeln an der Wand für die Klamotten, einer winzigen strohgedeckten Terrasse mit einem Tisch und einem Stuhl, und einem kniehohen Wasserbassin neben einem Loch im Boden, das der Boy jeden Morgen von außen befüllte und das für die persönliche Hygiene nach der Notdurft diente. So etwas wie Toilettenpapier gab es damals auf Bali nur in den großen Touristenhotels der Hauptstadt Denpasar im Süden. Wir Rucksacktouristen verwendeten die linke Hand und wuschen sie im Becken ab, so wie es die Menschen in armen Ländern bis heute machen. Deshalb heißt die Linke ja auch die „unreine“ Hand und verschwindet beim Essen unter den Tisch.
Silvaine und ich wohnten in benachbarten Zimmern und teilten uns eine Terrasse. Und so war es ganz normal, dass wir miteinander in Gespräch kamen. Sie stammte aus Paris und war mit einer Freundin von Jakarta bis Bali per Anhalter gefahren, also von einem Ende der Insel Java zur anderen, rund 1.100 Kilometer. Ich war etwas bequemer angereist, nämlich mit dem Zug: „Third Class Sleeper“ – drei harte Holzliegen, die sich wie Stockbetten runterklappen ließen und wo man seinen Schlafsack ausbreitete und versuchte, trotz es Geklappers und Geschüttels ein bisschen zu schlafen auf der Reise, die immerhin drei Tage gedauert hat.
Sie sei mit einer Freundin unterwegs gewesen, erzählte mir Silvaine, aber die hätte sie vor ein paar Tagen verlassen. „Mit ´nem Kerl“, wie sie sagte. Vielleicht hätte mir ihr Tonfall etwas über die Natur ihrer Beziehung sagen müssen, aber ich hatte nur Augen für dieses gertenschlanke Mädchen mit den langen, schwarzen Haaren und den süßen Sommersprossen um ihre kecke kleine Stupsnase.
Wir haben eine Woche lang miteinander Ausflüge gemacht, haben in den kleinen Dörfern Satyspieße und Papayas gegessen, der lauten, kakophonen Gamelanmusik gelauscht, die Teil der Tempelfeste der Hindi sind (Bali ist die einzige Region außerhalb Indiens, Nepals und Mauritius mit einer hinduistischen Bevölkerungsmehrheit), sind mal nach Denpasar in die laute Großstadt gefahren, aber gleich wieder umgedreht und haben uns in unser Losmen geflüchtet, wo es außer ein paar Backpackern wie wir nur charmante Einheimische gab, die immer ein Lächeln auf den Lippen trugen. Wir sind mit einem Tuk-tuk, dem allgegenwärtigen Motor-Rikscha, zum nächsten Wasserfall gefahren, wo wir geduscht und uns erfrischt haben. Ich werde niemals das Bild von Silvain vergessen, ihr schlanker nackter Körper halb von der Gischt der herabstürzenden Fluten verhüllt, die sich mit den natürlichsten Bewegungen der Welt abseifte, die Haare wusch und anschließend zu unserem Lager kam, um sich an den ausgeborgten Handtüchern aus dem Losmen abzutrocknen und sich anschließend in den Schatten zu legen und einzuschlafen.
Natürlich war das Ganze auch ungeheuer erotisch, und ich habe es nicht immer geschafft, die Zeichen meiner wachsenden Zuneigung zu unterdrücken, und Silvaine bemerkte das natürlich auch. Sie hatte mir inzwischen verraten, dass sie schwul war, und dass die junge Dame, mit der sie nach Bali gereist war und die sie verlassen hatte, ihre Geliebte gewesen sei. Und dass sie sich aus Männern nichts machte, war auch ziemlich klar. Aber Silvaine war nicht nur ein wunderschönes, sondern auch ein kluges und vernünftiges Mädchen. Eines Abends bei Bier vorm Zubettgehen auf der Terrasse sagte sie zu mir: „Du Tim, ich weiß ja, wie ich aussehe, und dass du gerne mit mir schlafen würdest. Ich hätte auch gar nichts dagegen. Du musst nur nicht böse sein, wenn ich dabei ein Buch lese…“
Ein Eimer Eiswasser wäre genauso wirksam gewesen. Jedenfalls hatte ich mich von diesem Moment an besser in der Hand, und wir haben weiter so gelebt wie bis dahin, nämlich offen und frei und meistens nackt, wie Gott uns geschaffen hatte. Bei der Hitze wäre alles andere ja auch sinnlos gewesen.
Unser paradiesisches Dasein neigte sich aber irgendwann seinem Ende zu. Ich musste langsam zurück ins kalte Europa, Silvaine wollte nach Ko Samui in Thailand, um ihr Leben neu zu ordnen. Blieb nur die Frage, wie sie dahin kommen sollte. Die Freundin war nämlich nicht nur mit dem Kerl, sondern auch mit der Reisekasse durchgebrannt: Silvaine besaß nur ein paar Rupiahs; gerade genug, um die Zimmerrechnung zu bezahlen, mehr nicht.
Ich dagegen war vergleichsweise wohlhabend: Ich hatte für ein paar Tausend Dollar Reiseschecks dabei, und ich trug in meinem Stiefel immer einen Hundertdollarschein als allerletzten Notnagel.
Wir fuhren also mit der Fähre – Bali ist eine Insel – aufs Festland und mit dem Zug die 600 Kilometer von Banyuwangi nach Yogyakarta, der Provinzhauptstadt. Wir nahmen ein Rikscha vom Bahnhof zu einer billigen Absteige für Rucksackreisende. Inzwischen hatte es angefangen zu regnen, und wenn ich „regnen“ sage, dann meine ich einen Wasserfall, der vom Himmel fällt, so wie man es nur in der Regenzeit am Äquator erleben kann.
Der Rikschafahrer hielt vor dem Eingang der Herberge, und ich nahm – ganz der Gentleman – Silvains Rucksack und stellte es unter das kleine Vordach. Ich drehte mich nach meinem eigenen Gepäck um – und der Rikscha war weg! Er musste ja auch nur ein oder zwei Meter weit fahren, um bei dem Regen völlig unsichtbar zu sein. Auf dem Sitz lag noch mein Rucksack mit den Papieren, Flugtickets und Reiseschecks, außerdem meine Kameratasche mit Hunderten von Aufnahmen von meiner großen Weltreise, und mein Schlafsack.
So stand ich da mit einem wunderhübschen Mädchen, dass zwar nicht mit mir schlafen, aber Geld für die Weiterreise von mir wollte, und einem Hundertdollarschein im Stiefel – sonst nix! Und das 22 Flugstunden von München entfernt, exakt am anderen Ende der Welt!
Ich habe mich später immer an diesen Moment erinnert als den absoluten Tiefpunkt in meinem Lebens: der Moment, an dem ich wirklich nicht mehr weiter wußte.
Es ging aber natürlich weiter. Den Zug konnten wir uns mit meinem Hunderter natürlich nicht mehr leisten, aber dafür den Bus – oder eine Serie von Bussen, die uns in Etappen von einem kleinen Ort zum anderen Richtung der Hauptstadt Jakarta brachten. Die Busse waren schmutzig, ab und zu kroch eine Kakerlake über den Boden. Das Schlimmste war, dass die alten, ausrangierten Busse je zwei Sitzplätze links und rechts vom Mittelgang besaßen, aber da die Indonesier in der Regel sehr schlank sind , verkaufte der Fahrer immer drei Tickets pro Sitzbank. Ich musste also immer drei Fahrscheine erwerben, was unsere schwindsüchtige Reisekasse zusätzlich belastete.
Irgendwann kamen wir endlich in Jakarta an und haben ein billiges Zimmer in einem Wohnheim für Bauarbeiter gefunden. Ich machte mich auf zur amerikanischen Botschaft, wo man mir die Geschichte mit dem Rikschafahrer erst einmal nicht abnehmen wollte. Angeblich tauchten jeden Tag Dutzende gestrandeter Amerikaner auf, die ihre Reisepässe versetzt hatten, um zu etwas Geld zu kommen. Irgendwann gab der Konsularbeamte aber nach und stellte mir ein neues Reisedokument aus.
Es gab aber noch zwei Hürden: Die Ausländerbehörde und die Fluggesellschaft. Der leitende Beamte, zu dem ich am Ende durchgedrang, verlangte den Abschnitt der Einreisebescheinigung, die jeder noch im Flieger ausfüllen musste, und den der Grenzbeamte bei der Passkontrolle in zwei Teile zerriss. Einen behielt er, den anderen steckte man als Einreisender in seinen Pass, um ihn bei der Ausreise vorlegen zu können. Damit wurde verhindert, dass Rucksacktouristen ihren Aufenthalt im Land über die gesetzliche Maximaldauer hinaus verlängerten und womöglich dem Staat zur Last fielen.
Mein Ausreiseschein war natürlich in Yogyakarta geblieben. Der Offizier rief einen Soldaten herbei und gab ihm ein paar Anweisungen. Der ging voraus zu einem Taxistand und stieg ein, ich natürlich hinterher. Er gab dem Fahrer ein paar knappe Anweisungen, und der fuhr mit uns hinaus an den Stadtrand – Jakarta war damals schon riesig – zu einer alten, verrosteten Wellblechhalle. Drinnen stapelten sich hunderte oder tausende von Ballen, die aussahen wie bei uns die Strohrollen auf der Alm. Nur bestanden sie aus Hunderttausenden von Papierstreifen – die von den Grenzern einbehaltenen Abschnitte der Einreiseformulare.
Wenigstens waren sie mit Datum gekennzeichnet, und wir wälzten eine Stunde lang Ballen hin und her, bis wir den vom Tag meiner Einreise fanden. Wir nahmen ihn auseinander und suchten so lange, bis wir meinen Zettel fanden. Dann mussten wir sie alle wieder zu zusammenbinden. Wir fuhren danach zurück ins Hauptquartier, wo mein Soldat ausstieg. Mich hielt der Taxifahrer fest und rieb sich die Finger – die universelle Geste fürs Bezahlen. Ich bedeutete dem Soldaten mit Zeichensprache, dass ich kein Geld hatte. Er war ziemlich sauer und glaubte nicht, dass ein Rundauge wirklich pleite sein könnte. Am Ende hat er aber dann doch dem Fahrer eine abgewetzte 200 Rupiennote gegeben – damals ein paar Cents.
Blieb jetzt nur noch das Problem mit dem abhandengekommenen Flugticket. Ich ging ins Büro der Gardua und klagte einer hübschen jungen Dame im Stewardessenkostüm mein Leid. Leider sei die Telexverbindung nach Singapur seit ein paar Tagen unterbrochen, sagte sie. Sie könne also nicht prüfen, ob meine Angaben stimmten. Ich schilderte ihr meine verzweifelte Lage: Die Telexverbindung nach Europa war auch weg, und ich konnte kein Geld von meiner Bank bekommen. Von meinem Stifelhunderter war zu diesem Zeitpunkt fast nichts mehr da.
Nach langem Hin und Her war die junge Dame doch noch bereit, mir ein Ersatzticket auszustellen – bat mich aber eindringlich, gleich in Singapur zu Garuda zu gehen und den Sachverhalt zu erklären. „Sonst verliere ich hier meinen Job“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme, „und von meinem Gehalt leben meine Kinder, mein Mann und meine Eltern!“
Klar war mein erster Gang zu Garuda, mein zweiter zur Deutschen Bank, wo das Telexsystem auch nicht funktionierte und man mich deshalb erst mal auf ein paar Tage vertröstete. Silvain und ich fragten den Taxifahrer nach einer möglichst billigen Absteige, und er grinste übers ganze Gesicht. „Ah – Bencoolen Street! Very good! Very clean! Very cheap!“
Wir landeten also mitten im chinesischen Arbeiterviertel in einer Absteige, die hauptsächlich von chinesischen Taglöhnern bewohnt war, in einem kleinen Zimmer mit einem Bett, dessen Matratze fast bis zum Boden durchsackte. Es gab einen Wandspiegel, einen Wassereimer und ein Plumpsklo draußen auf dem Gang. Über einen Balken unter der Decke lief Tag und Nacht eine Prozession von Ratten vorbei. Einmal fiel einer mitten in der Nacht runter und landete in unserem Bett. Silvaine blieb cool und verscheuchte ihn mit ihrem Turnschuh.
Nach drei Nächten in diesem Purgatorium hatten wir uns eigentlich daran ganz gut daran gewöhnt, Ratten inklusive. Um uns herum gab es tausende von Food Stalls wo wir um ein paar Pfennige feurig gewürztes Happen bekamen, und im Innenhof unserer Absteige gab es einen Wasserhahn. Unsere Wirtinnen, zwei kleine Chinesinnen mit langen Zöpfen, klopften jeden Morgen an und kassierten die Miete – ein Dollar pro Nacht – im Voraus.
Und dann kam endlich das Geld aus Deutschland: fünf Tausend D-Mark – ein unvorstellbarer Reichtum! Ich hatte Silvaine versprochen, wenn das Geld da ist, gehen wir ganz fein aus. Ich bestellte also einen Tisch im Raffles Hotel, dem ersten Haus in ganz Südostasien, und fuhr zum Flughafen, wo ich meinen Koffer mit anständigen europäischen Kleidern (ich hatte auf dem Hinweg ein paar Geschäftstermine in Japan und Hongkong zu absolvieren) in der Gepäckaufbewahrung deponiert hatte. Silvaine und ich waren die ganze Zeit in Jeans oder im Sarong rumgelaufen. Mehr hätten wir bei der Hitze auch nicht ausgehalten.
Daheim in unserem Taglöhnerwohnheim haben wir uns mit dem Wassereimer gegenseitig abgeduscht, wobei ich ein letztes Mal diesen wunderbaren Rücken abseifen und sie abschließend mit dem Badetuch abtrocknen durfte – in allem außer dem Sexuellen waren wir ja bis dahin schon fast wie ein altes Ehepaar geworden.
Ich zog Anzug und Krawatte an, Silvaine holte eine Handvoll Seidenstoff aus der Seitentasche ihres Rucksacks, schüttelte sie aus und schlüpfte hinein – es war das perfekte „kleine Schwarze“, das nichts der Fantasie überließ, so hauteng saß es.
Wir haben an diesem Abend im Raffles an der Long Bar den „Singapore Sling“ kennengelernt und im Restaurant für sage und schreibe 400 Dollar gegessen – viermal so viel, wie wir auf der ganzen Reise von Yogyakarta bis Singapur ausgegeben hatten. Am Ende des Abends überlegten wir uns, ob wir nicht ein Zimmer im Raffles nehmen sollten, aber die Idee haben wir schnell wieder verworfen. Stattdessen fuhren wir mit dem Taxi wieder zurück in die Bencoolen Street zu unseren Ratten und schliefen die letzte Nacht zusammen tief und fest in einem Bett – so unschuldig, wie wir es von Anfang an getan hatten. Am nächsten Morgen gab ich ihr 1000 Dollar als „Darlehen“, und unsere Wege trennten sich: Sie fuhr weiter nach Thailand, ich zum Flughafen und zurück nach Deutschland.
Es gibt im englischen einen alten Spruch unter Anglern, wenn sie von einem kapitalen Fisch erzählen, der sich leider noch losgerissen hat. Sie nennen ihn: „The one that got away.“ Ja, das war meine süße Silvaine – das Mädchen, das ich nie haben konnte…