Oder: Warum die Einwanderungspolitik im Westen der größte Skandal ist seit der Sklaverei
Antonio Bravo war 13, als er und sein Vater abgeholt und in ein Immigrantenlager gebracht wurden, von wo sie am nächsten Morgen von Großbritannien nach Angola zurückgeschickt werden sollten. In der Nacht nahm der Vater sein Bettuch und erhängte sich damit im Treppenhaus, weil er wusste, dass sein Sohn nach geltendem britischen Recht als Vollwaise nicht abgeschoben werden durfte.
Heute ist Antonio 19 Jahre alt. Er ist bei britischen Stiefeltern aufgewachsen, die Antonios Vater aus der Kirchengemeinde kannten. Er hat erfolgreich seinen Schulabschluss gemacht, absolviert eine Elektrikerlehre und möchte später ein Ingenierstudium dranhängen. Doch dazu wird es wahrscheinlich nicht kommen. Antonio soll jetzt doch noch nach Angola ausgewiesen werden. Möglich machen das neue, schärfere Bestimmungen im Ausländerrecht. Statt also, wie er geplant hat, nächstes Jahr die britische Staatsbürgerschaft beantragen zu können, wird Antonio vermutlich seinen 20sten Geburtstag in Luanda feiern – in einem Land, in dem er zwar geboren wurde, mit dem ihm aber keine Erinnerungen verbinden. Das Grab seines Vaters in Leeds wird er dann wohl nie wieder besuchen dürfen.
Es ist ein unglaubliches Rührstück, das Nina Bernstein heute in der „International Herald Tribune“ erzählt. Und doch ist es nur ein kleiner Mosaikstein in einem grausamen Gesamtkunstwerk, das sich „Einwanderungspoltik“ nennt, inzwischen jedoch zu einer reinen Abwehr- und Ausweisungspolitik verkommen ist. Sie ist das größte moralische Skandal seit der Sklaverei, und sie wird eines Tages dort landen, wo sie hingehört, nämlich auf dem Abfallhaufen der Gschichte.
Überall auf der Welt sind Menschen (Ausländer, natürlich!) in Bewegung, sind auf der Suche nach einem besseren Zuhause und einer anderen Zukunft als die, die sie daheim erwartet. Auf der anderen Seite – wir.
Diejenigen, nämlich, die das Glück der geografish günstigen Geburt besitzen und in genau den Ländern leben, in die andere gerne leben würden. Und wir wehren uns gegen sie mit allen Mitteln. Wir lassen sie vor Lampedusa ertrinken, in den Wüsten Nordmexikos verdursten, eingepfercht in Containern am Ärmelkanal ersticken oder von ruchlosen Schiebern in Nordafrika abschlachten, die lieber das zusammengekratzte Geld ihrer Schutzbefohlenen ohne Gegenleistung einstecken als sie heimlich über irgendeine grüne Grenze nach Europa oder Nordamerika schmuggeln. Sie hausen in heißen Wellblechhütten neben den Grenzzäunen in Cueta oder Juárez und träumen vom kühlen Norden, wo es Jobs gibt und keiner befürchten muss, dass nachts vermummte Staatsschutz-Schergen an der Tür klopft.
Manchmal ist das ein paar Zeilen in der Tageszeitung wert, meistens aber nicht. Das ist die eigentliche Schmach, die moralische Bankrotterklärung unserer westlichen Gesellschaft, die sich abschottet und in schönster „splendid isolation“ verharrt in der Hoffnung, das Problem werde sich schon irgendwie lösen, die barfüßige Lumpenmeute werde sich schon irgendwie wieder verziehen und zurückgehen in ihre Heimat, wo sie ja schließlich hingehören, weil sie das Pech hatten im großen Lotteriespiel des Lebens, an der falschen Stelle geboren zu werden.
Ich will mich mal ganz weit aus dem Fenster lehnen und beschreiben, wie für mich die einzige denkbare Lösung dieses verfahrenden Problems aussehen kann. Wir brauchen ein Menschenrecht auf freie Wahl des Wohnorts. Das geht ein ganzes Stück weiter als Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, und deren Worte heute für Menschen wie Antonio Bravo wie blanker Hohn klingen müssen: „Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“
Jeder, der einen anderen daran hindert, woanders hin zu gehen, begeht ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Das gilt für jeden Grenzbeamten, für jeden kleinen Angestellten im Ausländeramt, ganz besonders aber für jeden Politiker, der stimmenheischend nach noch mehr Gesetze und Ausführungsbestimmungen ruft, deren Ziel es ist, andere an ihrem Grundrecht zu hindern, ihren Wohnsitz selbst zu wählen.
Blauäugig? Hirnrissig? Völlig unpraktikabel? Ja, das weiß ich. Ich weiß aber auch, dass der Mensch die seltsame Gabe besitzt, sich seinen Lebensumständen anzupassen. Das würden auch wir schaffen; wir, die wir auf der Sonnenseite des Lebens stehen und anderen das Licht versperren. Außerdem glaube ich an das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Solange wir uns nur darum kümmern, unseren eigenen Lebensstandard hoch zu halten und allenfalls ein dünnes Nasenwasser abgeben in Form von so genannter Entwicklungshilfe, so lange werden unsere Länder ein unwiderstehlicher Magnet sein für alle Armen und Entrechteten dieser Erde.
Unser Ziel sollte es sein, den Leuten, die heute zu uns wollen, daheim eine sinnvolle Alternative zu bieten.
Ich habe das, zugegebenermaßen in kleinerem, regionalen Maßstab, in Indien selbst erlebt, wo man mit ein paar sehr klugen „Village Transformation Projects“ versucht, die Bauern aus Gegenden wie Ostgodavari aus der Steinzeit in die Moderne zu bringen, indem man ihnen sauberes Trinkwasser, hygiene Toiletten, medizinische Versorgung und vor allem Jobangebote schafft, und zwar bei sich zu Hause im Dorf. Mit einem solchen ganzheitlichen Ansatz kann man die Dorfflucht tatsächlich stoppen oder zumindest stark eindämmen. Denn die vielleicht wichtigste Erkenntnis, die ich bei diesen Projekten gewonnen habe, ist ganz einfach, und sie sollte uns alle – Politiker, Beamte, Bürger – in den westlichen Indiustrieländern aufhorchen lassen: Die Lösung des Problems der einseitigen Migrationsbewegungen von dort nach hier fängt dort bei denen an. Die meisten Menschen leben nämlich lieber daheim in ihren Dörfern als bei uns. Aber nur, wenn es ihnen dort (zumindest gefühlt) genauso gut geht, wie wenn sie ausgewandert wären.
Und was ist mit denen, die es immer gegeben hat und immer geben wird, die auf die fernen Berge starren und eine seltsame Sehnsucht in sich spüren herauszufinden, was sich jenseits von ihnen befindet? Nun, die sollten wir bei uns mit offenen Armen empfangen, denn sie sind die Neugierigen, die Ehrgeizigen, die Unruhigen, die Innovatoren: Diejenigen, die uns neue Ideen und neuen Optimismus bringen können – Dinge, die bei uns im satten, auf Besitzstandswahrung fixierten Westen dringend fehlen! Von solchen Einwanderern können wir nie genug bekommen.
Vor allem: Lasst Antonio Bravo hierbleiben und seinen Lebenstraum und das seines toten Vaters zu Ende leben. Er hat dazu ein Recht, das größer ist als die britischen oder europäischen Einwanderungsgesetze. Er hat das Menschenrecht auf seiner Seite!