Die Medizin steht, wie andere Branchen auch, unmittelbar vor dem Übergang vom analogen zum Digitalzeitalter. Der Weg dahin ist aber noch weit. Das betrifft Heilverfahren ebenso wie Geschäftsprozesse. „Medizin aus der Steinzeit“, schreiben die Autoren des Wissenschaftsmagazins „Terra Mater“ und meinen damit Chemotherapien, die wahllos alle Zellen zerstört, statt sich auf den Tumor zu konzentrieren, mit dem Ergebnis, dass dem Patienten die Haare ausfallen und er sich übel fühlt. Der IBM-Computer „Watson“ kann heute schon in Sekundenschnelle die gesamte medizinische Weltliteratur durchblättern und dem Arzt auf eine individuelle Patientensituation zugeschnittene Behandlungsvorschläge unterbreiten, die neben der eigentlichen Heilung auch ein Mindestmaß an Nebenwirkungen versprechen: Big Data trifft Medizin. In Zukunft werden personalisierte Therapien und Medikamente endgültig das Zeitalter vergessen machen, als die Medizin mehr Menschen tötete als sie heilte – und das ist gar nicht so lange her.
Die Parallelen zur digitalen Wirtschaft, in der kundenindividuelle Produkte und Services als Reaktion auf eine steigende Anspruchshaltung von Konsumenten immer mehr zur Norm werden, ist unverkennbar. Die Medizin muss den Patienten endlich als Kunde sehen und ihn entsprechend ernst nehmen. Der Medizinmarkt wird immer mehr genau zu dem, was der Begriff sagt: ein Marktplatz, auf der sich Arzt und Patient auf Augenhöhe begegnen.
Schon heute verliert der Mediziner immer mehr eines seiner wichtigsten Heilungsmittel, nämlich den Placebo-Effekt, sagt der Kommunikationswissenschaftler Prof. Norbert Bolz von der TU Berlin. Patienten kommen mit Stapeln von Google-Ausdrucken in die Praxis und sagen dem Doktor, was ihnen fehlt – statt andersrum. Und wehe, der Arzt verschreibt nicht das Mittel, was dem Patienten im Internet von anderen Patienten auf Facebook oder in einem der zahllosen Patientenforen als unfehlbar empfohlen worden ist – dann steht er schlimmstenfalls auf und geht zur Konkurrenz, sprich in die Arztpraxis nebenan.
Information spielt hier eine Schlüsselrolle. Daten sind das neuen Erdöl des 21sten Jahrhunderts, heißt es in der Digitalwirtschaft. Digitale Patientendaten sind dazu das Pendant in der Medizin. Von der elektronischen Patientenakte bis zu implantierten Speicherchips, auf denen die Behandlungshistorie, Medikamentenunverträglichkeiten und sogar die Vertragsnummer der Krankenkassen per Scanner ablesbar sind, gehören längst nicht mehr in die Science Fiction-Kiste, sondern sind in vielen Erdteilen gelebte Wirklichkeit. Österreich und Europa hinken da hinterher, teilweise aus falsch verstandener oder übertriebener Sorge um Vertraulichkeit und Datenschutz. Auch in der Medizin müssen die Daten fließen können, sonst bremsen wir den Fortschritt und damit den Heilungserfolg für Millionen von Menschen aus.
Der informierte Patient ist Fluch und Segen der modernen Medizin zugleich. Der informierte Patient nervt, aber er fordert den Arzt zugleich heraus, mit ihm in einen engagierten Dialog einzutreten, also quasi gemeinsam einen Weg zum Heilungserfolg zu suchen. Das ist eine große Chance für die moderne Medizin, aber sind Ärzte und Kliniken darauf vorbereitet? Ist der Herrgott im weißen Kittel bereit, aus seinem Olymp heranzusteigen und sich mit gewöhnlichen Sterblichen, sprich mit dem Patient ernsthaft und auf Augenhöhe auseinanderzusetzen? In der neuen digitalen Welt der Medizin wird vieles anders sein – aber was bleibt ist das Ziel, nämlich die Heilung des Menschen von Schmerz und die Verlängerung des Lebens unter menschenwürdigen Bedingungen.
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