Und ich dachte, dass nichts, was Donald Trump tut, mich noch schockieren könnte, aber er hat es – wieder einmal – geschafft: Der Präsident der Vereinigten Staaten stellt Neo-Nazis, militante Antisemiten und weiße Rassisten auf die gleiche Stufe wie die Menschen, die dagegen protestieren. Nur ein Mensch ohne einen Funken Geschichtsverständnis könnte so etwas sagen, und selbst die ultrakonservativen Kommentatoren von Fox News waren sprachlos.
Ermutigt bin ich ob der Empörungswelle, die weite Teile der USA erfasst hat. Trumps ohnehin miserablen Umfragewerte sind nochmal gesunken, wie Gallup vorgestern herausfand: Mit 34% liegt er gleichauf – oder besser: gleichunter – mit George W. Bush am Ende seiner Amtszeit. Das ist übrigens Rekord für einen Präsidenten, der erst ein halbes Jahr im Amt ist.
Seinen Anhängern ist das egal: Sie stehen zu ihm, komme was wolle. Und mit seiner „Fehler auf beiden Seiten“-Rede hat er ihnen Recht gegeben. Aber wer sind diese Leute?
Genau das möchten einige Twitter-User wissen, die unter dem Hashtag @YesYourRacist eine Kampagne organisiert haben, um die Teilnehmer an der Kundgebung in Charlottesville zu outen, bei der eine 32jährige Frau von einem durchgedrehten Rechtsradikalen totgefahren wurde. Sie haben Fotos der Fackelträger online gestellt und die Twitter-Gemeinde aufgefordert, sie zu identifizieren. Der erste, der so bloßgestellt wurde, arbeitete als Koch in einem Hotdog-Laden in Berkeley im US-Bundesstaat Kalifornien. Als er am nächsten Tag nach Hause kam, war er seinen Job los: Sein Arbeitgeber hatte ihm fristlos gekündigt. Ein anderer ist bis jetzt noch Student an der University of Nevada, aber innerhalb weniger Stunden hatten 10.000 Menschen eine Online-Petition unterschrieben, die seinen Rausschmiss forderten.
„Doxxing“ nennt man das internetbasierte Zusammentragen und anschließende Veröffentlichen personenbezogener Daten wie Name, Adresse, Telefonnummer oder Mail-Adresse in der Absicht, denjenigen Schaden zuzufügen. Die Abkürzung steht für „document dropping“, eine Redewendung, die sich an „name dropping“ orientiert, das Langenscheidt als das „Eindruckschinden durch ständige Erwähnung (angeblicher) prominenter Bekannter“ definiert.
Doxxing ist inzwischen weit verbreitet, vor allem in Amerika. Eine Website namens Doxxnet ist darauf spezialisiert, aus der Haft entlassene Sexualverbrecher zu enttarnen, mit der Folge, dass diese häufig auf offener Straße zusammengeschlagen oder ihr Häuser in Brand gesteckt werden. Leah McGrath Goodman, eine Reporterin für das Nachrichtenmagazin Newsweek, benutzte sein Twitter-Konto, nutzte Doxxing, um die angebliche Identität von Satoshi Nakamoto zu lüften, dem geheimnisumwitterten Gründer von BitCoin – nur leider erwischte sie den Falschen.
Ähnlich erging es jetzt Kyle Quinn, einem Wissenschaftler an der Arkanas-Universität, der von @YesYourRacist fälschlicherweise als einer der Fackelträger bei der Rassistendemo ausgemacht wurde. Tatsächlich besuchte er an dem fraglichen Abend mit seiner Frau eine Kunstausstellung in Bentonville – fast 2000 Kilometer von Charlottesville entfernt. Die Doxxer hatten ihn mit einem Unbekannten verwechselt, der ihm ähnlichsah – füllige Figur, Lockenfrisur, Vollbart. Am Montag war sein elektronischer Briefkasten gefüllt mit Hassmails, die Universitätsleitung wurde mit Forderungen nach seiner Entlassung überschwemmt.
Doxxing ist also ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist es guter Journalistenbrauch, Menschen nachzustellen, die lieber anonym bleiben würden, wenn sie in irgendwelchen Skandalen oder Verbrechen verwickelt sind. Farhad Manjoo, ein Technologie-Reporter für die New York Times, fasste es in einem mittlerweile weitverbreiteten Tweet so zusammen: „Doxxing is the new name for reporting.“
Der Unterschied ist nur, dass Reporter von einem ethischen Imperativ getrieben sind, sich genau zu vergewissern, bevor sie jemanden outen. In Deutschland ist es der „Pressekodex“ des Deutschen Presserats, der Journalisten zum oft recht kniffeligen Spagat zwischen Wahrhaftigkeit und der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet. In anderen Ländern, in denen das Recht auf freie Meinungsäußerung einen höheren Stellenwert hat als hierzulande, legt man weniger Wert auf Würde, menschliche oder sonstige. Aber Sorgfaltspflicht ist auch in Amerika oberstes Journalisten-Gebot, jedenfalls in seriösen Medienkreisen.
Zum Glück bietet das Internet ganz neue Möglichkeiten, den Wahrheitsgehalt einer Nachricht zu verifizieren. Der irische Redaktionsdienstleister Storyful hat sich seit 2010 zur Aufgabe gemacht, „Vertrauen, Loyalität und Umsatz mit Einblick und emotionell getriebenem Content zu generieren.“ Storyful hat sich auf Nachrichten aus sozialen Netzwerken spezialisiert. Sie filtern, analysieren und verifizieren Beiträge, Fotos und Videos aus sozialen Medien im Auftrag von namhaften Medienunternehmen wie die New York Times, ABC News, Bloomberg und Reuters. Twitter hat schon 2014 ein eigenes Team von Journalisten zusammengestellt, die unter dem Projektnamen „Twitter Lightning“ eine Auswahl von Meldungen, Bildern und Videos zu den Top-Themen des Tages zusammenstellen, die dann über das Internet verbreitet werden und sozusagen als „Gütesiegel“ für sauber recherchierte Nachrichten dienen sollen.
Das Problem ist nur, dass nicht jeder, der Fake News verbreitet, darauf aufmerksam gemacht werden will, entweder weil es ihm nicht in den Kram passt oder er eine heimliche Agenda verfolgt. Mark Popejoy, ein Nachbar von Kyle Quinn, dem unverdienten Doxxing-Opfer, wollte ihm zu Hilfe kommen und schrieb Dutzende von Twitter-Usern an, die die Falschmeldung vom Kyles angeblicher Teilnahem an der Rassistendemo von Charlottesville weiterverbreitet hatten und bat sie, die entsprechenden Tweets zu löschen. Einige bedankten sich, andere weigerten sich standhaft. Doxxer sind eben keine Reporter. Sie pfeifen notfalls auf den Pressekodex und lassen sich auch von unbequemen Fakten nicht beirren.
Nun ja, ich habe im Lauf meines langen Journalistenlebens Kollegen gekannt, von denen man das Gleiche sagen könnte.