„Mein Kopf kommt nicht mehr mit“, klagt Deutschlands bekanntester Kulturpessimist, FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in seinem populistischen Bestseller „Payback“, wo er das Gespenst der endgültigen Fremdbestimmung des Menschen durch das beschwört, was er unter dem Begriff „Algorithmus“ versteht: Computercode, Handlungsvorschrift, Turingmaschine, Determinismus . So mischt er sich munter ein mechanistisches Weltbild zusammen aus Versatzstücken der Psychologie, der Frankfurter Schule und des Science Fiction, Und er macht vor allem eines: Angst! Hat sich Google schon meiner Gedanken bemächtigt? Ist Microsoft dabei, meine neuronalen Kanäle umzuprogrammieren? Bin ich überhaupt noch ich, oder bin ich das, was die Digitaltechnik aus mir macht? „Produziert digitales Lesen digitale Gehirne?“, fragt mein Freund Norbert Bolz in seinem Einleitungsbeitrag zu dieser Diskussion – bleibt die eindeutige Antwort aber seltsamerweise schuldig, was sonst so gar nicht seine Art ist.
Man kann die Diskussion über Flow Control, also über das Behalten oder die Wiedererlangung der Selbstkontrolle im Digitalzeitalter, natürlich auf der theoretischen, kulturkritischen Ebene führen. Ich selbst ziehe eine eher kulturempiristische Vorgehensweise vor, nämlich durch Beobachtung und Erfahrung die Erkenntnis suchen. Locke statt Descartes, Hume statt Habermas. Was mich sofort als Internalisten entlarvt; als einen, der glaubt, dass sich Denkprozesse nicht externalisieren lassen, sondern im abgeschlossenen System des menschlichen Gehirns abspielen, dem fons et origo aller Erkenntnis und damit der Selbstbestimmung.
Die Frage, um die es in der Flow-Diskussion ebenso geht wie in Schirrmachers These von der digitalen Überforderung ist vielmehr die: Wieweit sind wir als Menschen von außen programmierbar? Spätestens seit Iwan Pavlov den „bedingten Reflex“ beschrieben hat ist uns bewusst, welche Rolle neuronale Prozesse (Hemmung, Erregung, etc.) bei der Analyse unserer äußeren Umgebung spielen. Umgekehrt wissen wir seitdem auch, dass durch externe Konditionierung interne Vorgänge, Reaktionen und damit auch Wahrnehmungen manipulierbar sind. Pavlov war in der Lage, nicht nur den Speichelfluss seiner Hunde zu kontrollieren, er konnte bei ihnen sogar Neurosen erzeugen und wieder heilen.
Was mich auf langem Umweg zur Teekanne führt. Ich selbst trinke gerne grünen Tee, und ich habe auf einer Japanreise einmal im Haus des legendären Firmengründers Konosuke Matsushita („Panasonic“) in Osaka einer traditionellen Zubereitungszeremonie beiwohnen dürfen, bei der eine zierliche Dame im grünen Kimono die Kanne mit einer unnachahmlich eleganten Bewegung zur Tasse führte und einschenkte. Wer japanische Teekannen kennt, der weiß, wie schwer das ist, denn das geringste Zittern, die kleinste Unregelmäßigkeit im Bewegungsablauf führt unweigerlich zu peinlicher Tropfenbildung und damit zum Gesichtsverlust der Gastgeberin.
Ich habe mir nach meiner Rückkehr aus Japan gleich eine sehr schöne (und teure!) gusseiserne Teekanne gekauft und benütze sie jeden Morgen. Neulich fiel mir auf, dass ich auf einmal die Kunst beherrsche, sozusagen unfallfrei Tee auszuschenken. Es geht bei mir jedenfalls inzwischen kein Tropfen mehr daneben!
Das Geheimnis, so hat es uns die Dame in Osaka erklärt, liege im Wa, was so viel bedeutet wie Ruhe und inneres Gleichgewicht. Auch Gegenstände und ganze Orte können Wa haben, so wie die Villa des Herrn Matsushita. Wa ist eine Mischung aus Erhabenheit und Selbstdisziplin, die einem hilft, die vielen kleinen Hürden des Alltags besser zu meistern.
Die Frage in unserem Kontext ist nun: Woher habe ich mein neues Wa? Habe ich mit der Zeit gelernt, das Ausgießen zu beherrschen – oder hat vielmehr die Kanne mir beigebracht, wie ich gießen muss?
Das ist keine triviale Frage, denn es geht spätestens seit Schirrmacher in der Diskussion über “Ich-Ermüdung” und digitale Überforderung schließlich um Fließkontrolle und um die Selbstbestimmung, also konkret darum, ob der Mensch Herr des Computer ist oder umgekehrt. Sagt uns Google, was wir denken dürfen? Ist Multitasking eine wünschenswerte Anpassung des Menschen an eine neue Kommunikationsumgebung, oder ist es Körperverletzung, wie Schirrmacher behauptet?
Ich mag Schirrmachers menschenverachtendes Bild des roboterhaften Menschen nicht, der ein wehrloses Opfer der Technik ist. Ich glaube auch nicht, wie der “Boulevardjournalist unter den Philosophen” (wie Andrian Kreye ihn in der “Süddeutschen” nannte), dass der Computer unser Gehirn “vermantscht”. Ich halte die Vorstellung, dass sich unsere Gehirne quasi zurückbilden oder verstümmelt werden, weil wir uns ständig einer steigenden Zahl von Informations- und Kommunikationsreizen aussetzen, sogar für menschenverachtend und ein bisschen krude. Das Gehirn bildet sich nicht zurück, es bildet sich weiter. Homo sapiens ist das Produkt eines dauernden Anpassungsprozesses, der natürlicherweise niemals abgeschlossen sein kann, sondern der immer weiter geht, wohin auch immer.
Das Beispiel der Teekanne verdeutlich das, was ich sagen will: Natürlich hat die Teekanne Einfluss auf mich gehabt. Sie hat mir eine neue Fähigkeit „beigebracht“, meine Hand-Augen-Koordination verbessert und mir geholfen, mich besser zu beherrschen. Womöglich sind dabei irgendwelche Synapsen in meinem Gehirn neu programmiert worden. Ich war also Gegenstand eines Eingriffs in meine Persönlichkeit. Aber ich war kein wehrloses Opfer, sondern aktiv an dem Vorgang beteiligt.
Der Mensch lebt in Symbiose mit seinen Werkzeugen. Indem er immer intelligentere Werkzeuge ersinnt und einsetzt, verändert er sich selbst. Das ist ein natürlicher Vorgang, und er ist wertfrei. Der Fehler, den auch Schirrmacher begeht, besteht darin, diesem Vorgang ein Attribut zu geben, ihn zu werten. Die Vorstellung von “Fortschritt” fällt in diese Kategorie der intellektuellen Untugenden – als ob der Mensch seit Anbeginn seiner Geschichte auf dem Weg zu einem klar definierten Endziel voran schreitet. Ein anderes ist die von durch Technik induzierte Degeneration, das “vermanschte” Gehirn von Schirrmacher.
Der von ihm aus dem Kontext zitierte amerikanische Serien-Entrepreneur und Buchautor Ray Kurzweil, der alles andere als ein überforderter Technikfeind ist, glaubt sogar, dass wir auf dem Weg zu “Homo sapiens 2.0″ sind, weil wir demnächst in der Lage sein werden, uns durch das Implantieren künstlich hergestellter Gehirnzellen in eine Rasse von “superintelligenten” Wesen zu verwandeln. Diese Vorstellung beunruhigt mich viel mehr. Wenn wir Intelligenz züchten können, was bedeutet das für unsere Gesellschaft? Was, wenn sich nur Reiche solches nachträgliche Gehirnaufrüsten leisten können? Hatte Aldous Huxley recht, als er 1932 in “Schöne neue Welt” eine Gesellschaft beschrieb, in der eine kleine Elite die Informationshoheit besitzt und das Volk mit reichlich Soma und Trivialunterhaltung zu willfährigen Arbeitstieren degradiert wird?
Schirrmacher spricht vom “Taylorismus”, der dem Multitasking zugrunde liegt. Lange zuvor hat uns Huxley dafür den Begriff des “Fordismus” geschenkt, also einer Welt, in der alles nach dem Prinzip der Arbeitsteilung und der Fließbandproduktion abläuft. Sogar eine neue Zeiteinteilung hat er erfunden, “AF” für “After Ford”. Schirrmacher würde wohl von “AT” sprechen, für “After Taylor”.
Huxleys Buch wurde übrigens gleich nach dem Erscheinen in Irland verboten. Später zogen die Schulbehörden in Missouri und Kalifornien nach, und zwar mit der Begründung, das Buch drehe sich um „negative Aktivität”. Schirrmacher ist ein Meister des negativen Denkens, was ja Gehirn-Aktivität voraussetzt. Ich wünsche ihm dennoch nicht, dass sein Buch verbannt wird. Es würde genügen, wenn man es verramscht – oder von mir aus vermanscht.
Ich selbst werde inzwischen abwarten und Tee trinken. Und vielleicht ist es genau das, was uns fehlt in der augenblicklich so aufgewühlten Debatte um Flow Control, um Selbstbestimmung und Selbstüberforderung, um informationellen Überlastungsschutz und Monster-Algorithmen, die in unsere Gehirne eindringen und dort die Macht ergreifen. Abgeklärtheit und Selbstkontrolle, sozusagen ein „digitales Wa“. Vielleicht noch mit einer Prise heiterer Gelassenheit die uns in die Lage versetzt, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind – und wohin sie fließen.