Im Lungau, wo ich meinen Lebensabend verbringe, ist die Zeit ein bisschen stehengeblieben. Wenn man sich auf der Straße begegnet, grüßt man sich, auch wenn man den anderen gar nicht kennt. Das machen jedenfalls die Alten so; bei den Kids ist der Brauch leider wohl am absterben. Wenn ich einer Gruppe von Buden oder Madis auf dem Nachhauseweg von der Schule begegne, sage ich besonders laut und vernehmlich: „Grüß Euch!“ oder „Servus!“, und manchmal sind sie ganz erschrocken und rufen mir eilig ein „Grias di!“ hinterher. Wir leben über 1000 Meter, und ab dieser Höhe ist es in den Alpen üblich, dass sich alle duzen, was auch so ein alter Brauch, der langsam in Vergessenheit zu geraten droht.
Gestern war Sonntag, und als alter Freidenker lege ich normalerweise meine Spaziergänge auf die Zeit nach dem Kirchgang, aber aus irgendwelchen Grünen war ich diesmal genau zu der Zeit unterwegs, wo die Lungauer vom Gottesdienst zurückkommen. Und mir kam eine kleine Prozession entgegen, die aus einer einzigen Großfamilie bestand. Es sind erfolgreiche Geschäftsleute, ein Sägewerksbesitzer ist darunter, ein Gastronom und ein Unternehmer, der digitale Endgeräte für Gastronomen herstellt und vertreibt – ein Lungauer, also, bei dem die Zeit gar nicht stehengeblieben ist.
Sozusagen als Familienleittiere voran schritten der Juniorchef und seine Frau, er in Lederhose, sie im Dirndl. Und beide trugen ein Smartphone in der Hand, in das sie wie gebannt starrten und ab und zu etwas eintippten. Als wir an einander vorbeiliefen, wartete ich auf den üblichen Gruß – ich bin immerhin der Ältere, und es ist eigentlich Brauch, dass die Jüngeren zuerst etwas sagen. Aber die beiden liefen schweigend an mir vorbei, völlig in ihrer digitalen Scheinwelt vertieft, und ich starrte ihnen etwas fassungslos hinterher.
Immer wieder höre ich die Klage der Betagten, die Digitalisierung habe die Jugend verdorben, ihnen die Manieren genommen und sie in Zombies verwandelt, die nur noch in der Welt hinter dem Bildschirm daheim sind und sich nicht mehr für das „richtige Leben“ im Hier und Jetzt interessieren. Ich verstehe solche Töne, habe sie aber bisher immer als das typische weltfremde Gejammere digital Zurückgebliebener empfunden, an denen die Zeit vorbeigegangen ist.
Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich habe lange und intensiv über diesen Vorfall nachgedacht, und ich denke, ich habe einen Grund dafür gefunden: Es gibt offenbar in jeder Altersgruppe Menschen mit schlechten Manieren. Vielleicht sollten wir sie „digitale Prols“ nennen. In der Großstadt fällt das nicht so auf, weil im Grunde alle so sind. Nur im Lungau, wo die Zeit stehengeblieben sein soll, da fällt es ganz besonders auf.
Wenn wir uns in Zukunft Gedanken machen – und das müssen wir als Gesellschaft – über Benimmregeln fürs Digitalzeitalter, die so genannte Netiquette, sollten wir vielleicht eine Regel nicht vergessen: Am Wichtigsten ist bei aller Innovation immer noch der Mitmensch, dem wir leibhaftig im Leben begegnen. Oder wie es ein Digital Native sagen würde: „F2F“!
Eine Antwort auf Digitales Proletentum