Mein Freund Lutz Prauser hat gerade auf unserem gemeinsamen Meta-Blog www.czyslansky.net einen sehr lesenswerten Beitrag gepostet zum Thema „Kondolenz – meine natürliche Grenze digitaler Transformation“ in dem er sich Gedanken macht über Tod, Sterben und den Verlust von Freunden in den sozialen Netzwerken. Was mich daran erinnert hat, dass ich schon im Jahr 2008 das Thema hier aufgegriffen habe, und siehe da: Es hat sich eigentlich kaum etwas verändert. Weshalb ich im Rahmen meiner Rückschau auf 21 Jahre Cole-Blog den Text gerne wiederhole:
Darf man per E-Mail trauern?
Die Todesnachricht lag in meiner Mailbox, und ich habe darauf geantwortet. Hätte ich das tun dürfen?
Hartmut Dirks ist nicht alt geworden. Mit 53 Jahren ist er in einem Krankenhaus in seiner Heimatstadt Emden gestorben. Das hat mir seine Frau Alice heute per E-Mail-Rundschreiben an alle Freunde und Verwandte mitgeteilt.
Hartmut war über die Jahre mein Streit- und Saufkumpan, ein Schwätzer vor dem Herren, vor dem ich – selber kein übler Schwätzer – neidlos den Hut ziehen musste. Klar, dass so einer – wie ich – die Journalistenlaufbahn einschlagen musste. Sprüche von ihm wie „ohne ’n Korn ist ’n Bier ja so trocken“ werden mich mein Leben lang begleiten.
Warum er gestorben ist, weiß ich nicht, nur dass es wohl „plötzlich und unerwartet“, aber auch „schmerzlos“ gewesen sein muss, wie mir seine Witwe schrieb. Die erste Mail im Neuen Jahr, und dann so was.
Ich war jedenfalls ziemlich fassungslos, als ich frühmorgens, noch ein bisschen verkatert und im Morgenmantel am Computer saß und die Mail las. Und ich habe das getan, was ich normalerweise bei Mails, die mich interessieren oder berühren, tue: Ich habe sofort geantwortet. Das gehört sich so im Internet-Zeitalter. Menschen, die endlos lange brauchen, bis sie antworten (oder die gar nicht antworten) mag ich eigentlich nicht.
Doch dann sind mir plötzlich Zweifel gekommen. War das richtig? Ist E-Mail das richtige Medium, um so persönliche und intime Inhalte zu kommunizieren wie Beileid, Bestürzung, Trauer? Was bist du doch für ein grober Klotz, dass du glaubst, einer armen Witwe gegenüber deine Pflicht und Schuldigkeit getan zu haben, indem du mal eben auf „senden“ drückst? Wie weit sind wir gekommen in dieser kalten Welt des Browsers und des Mailers?
Gut, ich kannte die Dame ja nicht. Hardy hat sie erst geheiratet, als wir uns schon ein bisschen aus den Augen verloren hatten. Unser Kontakt bestand über die Jahre nur aus spontanen, aber meist sehr langen Telefongesprächen, in denen es um Gott und die Welt, um alles von Computerspiele bis zur Gesundheitsreform, um berufliche Erfolge und Misserfolge, um Hardys spätes Zweitstudium und unsere mit dem Alter zunehmende Unfähigkeit ging, wie früher bis zum Morgengrauen Jever und Korn zu kippen und trotzdem am nächsten Morgen noch wie Tiere zu arbeiten.
Natürlich habe ich mir inzwischen eine Rationalisierung zu Recht gelegt, die mir hilft, meine tief sitzende Unlust zu rechtfertigen, eine wildfremde Witwe anzurufen und persönlich die üblichen Trostformeln zu sprechen. Immerhin hat sie mir ein Rundschreiben geschickt. Wie unpersönlich kann man werden? Und außerdem ist es halt so: Wir leben nun mal in der Welt, in der wir leben, und E-Mail ist für Menschen wie mich inzwischen sogar zu der absolut wichtigsten Kommunikationsform überhaupt geworden. Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, dass die Verteilung bei mir in etwa so aussieht: Telefonieren 20 Prozent, F2F (also mit anderen Menschen von Angesicht zu Angesicht sprechen) 30 Prozent, E-Mail 50 Prozent.
Ein Beileidsbrief per E-Mail ist also absolut in Ordnung, weil zeitgemäß und zeitnah. Alice Dirks wird das genauso zur Kenntnis nehmen wie eine Karte oder ein paar gestammelte Worte von einem Unbekannten am Telefon. Ob es ihr mehr oder weniger weiterhilft als eine andere Form der Beileidsbezeugung, oder ob es ihr überhaupt hilft, weiß ich nicht.
Aber irgendwo ganz tief unten in meinem verborgenen Bewusstsein nagt noch immer so ein kleiner Zweifel. Vielleicht gibt es doch Dinge, die nicht in eine Mail gehören.