Ein Atheist ist ein interessanter Begleiter, wenn man die Heilige Stadt der Hindus besucht. Man muss im Übrigen sagen, dass das Niveau der Fremdenführer zumindest auf unserer Reise eher mäßig bis saumäßig war. Die meisten von ihnen konnten gerade so viel in ihrem Stümmelenglisch stammeln, wie im ersten Absatz des Fremdenführers steht. Aber Ravindra Singh ist ein anderer Kaliber: Er hat englische Literatur studiert und hoffte einmal, einen Universitäts-Job zu landen, hatte aber Pech, weil zu der Zeit gerade Einstellungsstopp war, also hat er die Prüfung zum staatlichen Anerkannten „Guide & Escort“ gemacht. Es ist jedenfalls nicht aller Tage, dass man sich mit einem indischen Führer anregt über Virginia Woolf oder Evelyn Waugh unterhalten kann…
Aber das ist gar nichts gemessen an dem, was aus ihm raus sprudelt, wenn man ihn zum komplizierten Durch- und Nebeneinander indischer Religionssysteme befragt. Beim Spaziergang durch Sarnath, wo Siddhartha Gautama seine erste Predigt gehalten und das Geheimnis des achtfachen Pfads gelüftet haben soll. Von der blühenden Stadt, die hier 300 vor Christus existiert hat, sind nur noch von grünem Rasen umgebene Ruinenreste übrig geblieben, abgesehen von dem 50 Meter hohen Dhamekh Stupa, eine massive, gemauerte Säule mit einem Umfang von 30 Metern, das an der Stelle steht, wo der „Erleuchtete“ (Buddha) zu seinen fünf Jüngern sprach.
„Alles, was der Buddha sagte, war sehr logisch“, behauptet Ravindra. „Jeder sollte selbst herausfinden, warum es ihm schlecht geht und welcher Weg für ihn der richtige ist, um da herauszukommen. Er hatte erkannt, dass kein einziger Weg der richtige sein kann, weil keine zwei Menschen wirklich gleich sind.“ Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, so könnte man das vielleicht zusammenfassen. Buddha sei im Grunde ein Sozialreformer gewesen, der selbst nicht an Gott geglaubt hat, sagt er. Dass man ihn später selbst zum Gott erhoben hat und Millionen von Menschen sein Abbild anbeten ist für Ravindra nichts als ein großer Schwindel. „Buddha wollte die Macht der Priesterkaste brechen, aber sie haben es raffiniert verstanden, sich in die neue Weltanschauung einzunisten und sie in eine Religion zurück zu verwandeln, weil man sie dann wieder brauchte“, so seine Interpretation von 2400 Jahren buddhistischer Religionsgeschichte.
Er sagt das alles ganz ruhig, fast beiläufig, während wir an Schlangen von weißgekleideten Pilgern aus Sri Lanka vorbeilaufen oder rotgekleideten buddhistischen Bettelmönchen zuschauen, die verklärt im Lotussitz auf dem Gras hocken und mit verzücktem Gesicht die Stupa fixieren, die der Ausgangspunkt ihres Glauben ist.
Am nächsten Tag schwimmen wir mit ihm im Morgengrauen auf „Maya Ganga“ („Mutter Ganges“) in einem wackeligen Ruderboot, und die seltsame Predigt geht weiter. Während Glocken geschlagen werden und Muschelhörner schrill ertönen, während verzückte Gläubige in die schmutzig braunen Fluten steigen und sich damit übergießen oder sogar davon trinken, erzählt uns Ravindra vom Niedergang des Hinduismus in Indien.
„Schuld sind die Mobiltelefone“, sagt er. Die jungen Leute legen sich so ein Ding zu und rufen sich gegenseitig an. Junge lernt Mädchen kennen, sie telefonieren, verlieben sich, irgendwann heiraten sie – und die Priester haben das Nachsehen. „Früher sind sie reich geworden mit dem Heiraten“, behauptet er. Damals wurden Ehen zwischen den Eltern ausgehandelt. Der Vater der Braut ging zum Vater des Bräutigams und verlangte ein Horoskop des Möchtegern-Schwiegersohns, den natürlich ein Priester vorher ausstellen musste. Damit ging er zu seinem eigenen Priester, der es mit dem der jungen Braut verglich. „Es gibt 36
Kriterien, die verglichen werden müssen. Stimmen viele von ihnen überein, dann kann die Ehe geschlossen werden, denn das Paar wird Glück haben. Gibt es wenige Übereinstimmungen, dann könnte das zum Beispiel bedeuteten, dass der Bräutigam einen Unfall haben wird. Dagegen kann man sich aber auch wieder schützen, indem man den Priester bittet, bestimmte Rituale durchzuführen. Und jedesmal kassiert der Priester. Ist doch klar, dass die jetzt Panik bekommen, denn ihnen läuft das Geschäft weg, wenn die jungen Leute alles selber am Telefon erledigen. So wettern sie im gleichen Atemzug gegen den Verfall der Sitten und das Aufkommen des Mobilfunks, ganz im Stile früherer Bilderstürmer. Heute würde man sie Hany-Stürmer nennen.
Ravindra glaubt sogar, dass die vielen religiösen Unruhen, die Indien heute erschüttern und von denen wir in Deutschland so gut wie nichts mitbekommen – in Orissa sind 300.000 Christen auf der Flucht vor randalierenden Mobs von radikalen Hindus, die Priester ermorden und Nonnen vergewaltigen – heimlich von den Hindu-Priestern angestiftet werden, weil sie um ihre Vormachtstellung fürchten. Die hinduistische Jugendorganisation RSS, die immer wieder Aktivisten zu Protestdemos losschickt, vergleicht Ravindra mit Hitlers Braunhemden. Als wir den goldenen Vishwanrath-Tempel von Varanassi besuchen wollen, werden wir von bewaffneten Soldaten abgewiesen. „Only Hindus“, heißt es. Das diene unserem eigenen Schutz, behauptet Ravindra. Nebenan sei eine alte Moschee, denn möchten die Radikal-Hindus gerne abreißen, weil dort einmal ein Rama-Tempel stand. Wenn das passiert, werden die Moslems auf die Straße gehen und es gibt wieder Tote, so wie vor ein paar Jahren in Ayodya.
Ravindra ist auf dieser Reise für mich eine Art lebender Realitäts-Check, so ähnlich wie der Mann, der im alten Rom hinter den Cäsaren zu stehen hatte, um ihm immer wieder ins Ohr zu flüstern: „Auch du bist nur ein sterblicher Mensch“. Es wäre leicht, sich von der Aura des Spirituellen einnehmen zu lassen, die diese immerhin 3000 Jahre alte Stadt umgibt, in der es eigentlich nur um Religion geht, wo an jeder Ecke ein Altar steht, wo das Ufer von Mutter Ganges mit Tempeln zugestellt ist und ein Duft von Weihrauch und Ehrfurcht die Luft zu füllen scheint.
Er holt einen gleich wieder runter von der Wolke, auf der Varanassi-Besucher zu schweben drohen. Das macht er sehr geschickt, zum Beispiel im Moment der höchsten Erhabenheit, als der rote Ball der Sonne über dem östlichen Gangesufer aufgeht, die Gläubigen ganz aus dem Häuschen sind und die Touristen von ihren Ruderbooten aus wie wild Fotos schießen. Das ist der Augenblick für ihn, sein Erfolgsrezept für Indien zum Besten zu geben. „My solution – no religion. Very simple…“
Nein, so einfach ist das nicht. Aber es ist ein Gedanke, immerhin.