Ein wunderbarer Sonnentag in Frankfurt. Die Kastanien stehen in voller Blüte. Am Mainkai stehen hastig aufgestellte Verkehrsschilder: „Innenstadt gesperrt“. Vor der Deutschen Bank parkt ein Dutzend Einsatzfahrzeuge der Polizei. Der Eingang ist mit Absperrungen verbarrikadiert. An jeder Straßenecke in Richtung Innenstadt stehen Beamte mit Schlagstöcken und Schutzhelme. Noch hängen sie lässig überm Arm.
Im Schirn pilgern Passanten zu Eduar Munch. Ein paar Schritte weiter am Paulsplatz stehen ein paar Dutzend junge Menschen in kleinen Gruppen herum. Einige sitzen auf dem Boden. Sie haben Colaflaschen und Chipstüten dabei. Um sie herum stehen gefühlt ein paar Hundert Polizisten in voller Kampfmontur. Die „Blockupy“-Bewegung hat über Christ Himmelfahrt zu Aktionstagen gegen die Allmacht des Bankensystems und für mehr Demokratie aufgerufen. Die Staatsmacht will das offenbar unbedingt verhindern. Notfalls mit Gewalt. „Gehen Sie da lieber nicht hin, das könnte noch unangenehm werden“, rät mir ein junger Polizist. Er steht am Römer und kontrolliert die Taschen derjenigen, die Richtung Paulskirche wollen. Ich habe keine Tasche und darf also ungehindert vorbeigehen.
Direkt vor der Paulskirche steht ein halbes Dutzend Polizeiwagen, um den Platz ist ein weiteres gutes Dutzend verteilt. Polizisten stehen herum oder gehen in Dreier- oder Vierergruppen langsam auf und ab. Ein Kolos von einem Polizisten mit hautengem T-Shirt und gestähltem Bizeps baut sich vor einer kleinen Passantin auf, die ihn fragt, warum er und seine Kollegen hier seien. „Wir wollen Gewalt verhindern“, sagt er. Sie schaut ihn mit angsterfüllten Augen an. Gewalt vom wem?
Auf dem Platz verteilen Aktivisten kleine weiße Bücher. „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ steht auf der Vorderseite. Auf der Rückseite sind Text und Noten der Bundeshymne aufgedruckt. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ heißt es dort. „Besorgen Sie sich eine Ausgabe des Grundgesetzes, so lange es noch geht“, sagt die rundliche Mittvierzigerin, die sie verteilt. Wer eines hat, hält es trotzig in die Höhe, winkt damit den umstehenden Beamten zu.
Aus dem Lautsprecher der Einsatzleitung eine Durchsage, die fast in einem Pfeifkonzert untergeht. „Die für heute beantragte Versammlung ist gerichtlich verboten worden. Dieses Verbot ist vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden. Verlassen Sie bitte umgehend den Paulsplatz.“ Bislang war es ruhig. Jetzt beginnen die Menschen zu skandieren: „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut.“ Ein paar ältere Spaziergänger sind stehengeblieben. Sie beginnen, mit zu rufen. „Jede weitere Veranstaltung, die Sie durchführen wollen, ist ebenfalls verboten“, sagt die Lautsprecherstimme.
Eine ältere Dame stellt sich vor einem wartenden Dutzend Einsatzkräfte auf und beginnt, mit lauter, fester Stimme aus dem weißen Büchlein vorzulesen: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Keiner hört ihr zu. Die Polizisten nesteln an ihren Koppeln. Der Einsatzleiter steht ein paar Schritte entfernt. „Nehmen Sie die Gruppe zwei und fangen Sie an, sie hierher abzudrängen“, raunzt er einem Subalternen zu, der eilfertig verschwindet.
Auf dem Paulsplatz beginnen einige zu singen. „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?“ Ob es 1848 auch so geklungen hat, als man das schöne Lied Hoffmann von Fallerslebens an dieser Stelle sang, bevor man hineinging, um eine demokratische Verfassung für Deutschland zu bauen?
Im Hintergrund ragt die stolze Pauluskirche in den sommerblauen Himmel. Mich fröstelt es trotzdem. „Hat es vielleicht auch so angefangen?“, fährt es mir durch den Kopf. Nee, die Braunhemden haben gleich losgeschlagen. Die Polizei hat damals bloß zugeschaut. Tragen die Braunhemden heute vielleicht blau und grün? Welcher Geist steckt in den Köpfen der jungen Frauen und Männer in den Kampfanzügen? Was verteidigen Sie? Die Ruhe, die Ordnung, das Establishment, die Banker? Was glauben sie, wie ihre Präsenz auf die Bürger wirkt? Ich fühle mich jedenfalls nicht von ihnen beschützt, sondern bedroht. Und so wie mir geht es offenbar vielen. „Wir leben doch nicht in einem Polizeistaat“, sagt eine entrüstete Rentnerin. Noch nicht. Aber heute in Frankfurt könnte man es schon glauben.
Ich denke, es wird in Deutschland einen ziemlich heißen Frühling geben.