Ich habe neulich meinen jahrelangen Widerstand aufgegeben und einen Kindle gekauft, ein elektronisches Buch. Das heißt: Der Kindle ist eigentlich ein Lesegerät, mit dem man elektronische Bücher aus dem Internet herunterladen und unterwegs lesen kann. Auf dem taschenbuchgroßen Flachmann haben mehr Bücher Platz, als bei mir daheim im Bücherregal stehen, und das sind eine ganze Menge, denn ich bin zeitlebens Büchernarr gewesen. Die elektronischen Titel kaufe ich bei Amazon oder lade sie von Gratis-Websites wie Projekt Gutenberg herunter. Dort haben Hunderte von hilfreichen Menschen Bücher abgetippt und hochgeladen, die von Autoren stammen, die länger als 99 Jahre tot sind und deren Urheberrecht damit erloschen ist. Es gibt dort alles von „Robinson Crusoe“ bis Goethes „Faust“ in der Digitalausgabe. Die Macher von Projekt Gutenberg tun das, um die allgemeine Lesekultur zu fördern. Alle sollen alles lesen können, sagen sie.
Und ich lese inzwischen fast pausenlos. Nicht, dass ich nicht vorher schon eine Leseratte gewesen wäre. Als Kind habe ich mit Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen, lange nachdem mir meine Mutter eigentlich „Licht aus!“ befohlen hatte. Aber jetzt? Mein Kindle ist so federleicht und passt so schön in die Jackentasche, dass ich buchstäblich überall lese, wo ich gehe, stehe und sitze. Ich lese in der Straßenbahn, aber ich lese auch auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle (Achtung: Laternenpfahl!). Ich lese, während meine Frau im Laden Pullover anprobiert. Wenn wir verreisen, bitte ich meine Frau zu fahren, damit ich auf dem Beifahrersitz lesen kann. Ja, ich lese sogar auf der Toilette, jedenfalls so lange, bis meine Frau an die Tür klopft und mich daran erinnert, dass andere auch mal müssen.
Es ist schon eine tolle Verbindung: Buch und Internet. Offenbar finden das andere Leute auch, denn Amerika sind „E-Books“ der absolute Renner. Letztes Jahr stiegen die Absatzzahlen elektronischer Bücher um 10 Prozent, während der Verkauf von Papierbüchern um 9 Prozent sank. Bereits 2010 verkaufte Amazon mehr E-Books als gebundene Ausgaben. In den USA gibt es angeblich mehr als 700 „richtige“ Buchläden aus Backsteinen und Mörtel, die sich entweder ganz oder teilweise auf den Verkauf von E-Büchern und den entsprechenden Lesegeräten spezialisiert haben.
In Deutschland wartet man noch ab. „Die deutsche Buchbranche droht, die Digitalisierung zu verschlafen“, sagt Werner Ballhaus, der bei der Unternehmensberatung PwC den Bereich Technologie, Medien und Telekommunikation leitet. Verlage und Buchhändler scheinen sich verschworen zu haben gegen den digitalen Trend. Jedenfalls ist die Zahl der Titel im Vergleich zu Amerika verschwindend klein, und mein Buchhändler um die Ecke weigert sich, solche Geräte ins Sortiment zu nehmen. „Vorher gehe ich in Pension“, sagte er neulich.
Nun, die Konkurrenz schläft bekanntlich nicht. So wird gemunkelt, dass der amerikanische Buchhandelsriese Barnes & Noble mit der deutschen Thalia-Kette einen Deal plant, um sein eigenes Lesegerät, das auf den Namen „Nook“ hört, samt Tausenden von E-Titeln auch auf den deutschen Markt zu werfen. Der Druck wächst also, und irgendwann wird sich wohl auch der deutsche Büchermarkt bewegen müssen.
Ich hoffe, sie beeilt sich, denn in unserer Familie gibt es schon so eine Art von elektronischem Bücher-Stau. Neulich hat m Meine Frau den Kindle neugierhalber in die Hand genommen und darin geblättert. Nach ein paar Minuten hatte sie sich festgelesen und weigerte sich, mir mein Buch wieder auszuhändigen. Es gab laute Worte, und ich bin bloß froh, dass wenigstens unsere Tochter aus dem Haus ist, sonst hinge der Haussegen bestimmt permanent schief, so wie früher, als wir uns vorm Fernseher um die Fernbedienung gestritten haben.
Übrigens: Erinnern Sie sich noch daran, wie vor ein paar Jahren Philologenverbände und Deutschlehrer den drohenden Niedergang der Lesekultur in Deutschland beklagten. Die Kids, sagten sie, würden bald nur noch in die Glotze oder auf den PC-Bildschirm starren und über kurz oder lang die Fähigkeit verlieren, sich kritisch mit geschriebenen Texten auseinander zu setzen. O tempora, o mores!
Damals machte ein spöttischer Spruch die Runde: „Der Trend geht zum Zweitbuch“, sagten manche und meinten damit, dass es bald gar keine Bücher mehr geben würde. Sie haben aber unerwartet Recht behalten: Ich schaffe mir jedenfalls demnächst ein Zweit-Kindle an. Ich habe es nämlich satt, mir immer wieder die Frage anhören zu müssen: „Wo ist denn das Buch schon wieder?“
Eine Antwort auf Der Trend geht zum Zweitbuch