Jetzt, wo der Lotse von Bord gegangen ist, wird so ziemlich jeder seine Helmut-Schmidt-Geschichte niederschreiben wollen, und ich möchte keine Ausnahme sein, zumal unsere kurze Begegnung bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat.
Im Herbst 2004 war Siemens Communications, kurz „Siemens COM“, noch die größte Unternehmenssparte des deutschen Hightech-Konzerns, man baute Telefonanlagen namens „HighPath“, Vermittlungsstationen und auch das eine oder andere Handy. Ein gewisser Thomas Ganswindt leitete Siemens COM und machte sich wohl gute Hoffnung auf den Job von CEO Heinrich von Pierer. Schließlich schrieb die Telefonabteilung Rekordgewinne, und vom späteren Bestechungsskandal, der Ganswindt und vielen anderen die Karriere kosten sollte, war noch keine Rede. Mich hatte Siemens ein paarmal engagiert, als Vortragsredner und als Moderator verschiedener kleinerer Events.
Damals kleckerte man bei Siemens nicht – man klotzte! Zum Wochende auf Mallorca flog man die 50 Top-Kunden aus aller Welt mit Damen ein. Es warteten 50 schwarze Audi TT am Flughafen, jeder ankommende CEO bekam einen Schlüssel ausgehändigt, es waren Abschlagzeiten in den nobelsten Golfclubs der Insel gebucht, der Champagner floss in Strömen.
Um das Ganze wie ein Geschäftstermin aussehen zu lassen, gab es ein Vortragsprogramm im Fünfsterne-Tagungshotel „Mardeval“, und mein Honorar als Moderator war sicher eine der kleinsten Posten auf der Rechnung.
Was Helmut Schmidt für seinen Auftritt als Keynote-Sprecher bekam, weiß ich nicht, aber die Siemens-Leute waren jedenfalls alle furchtbar aufgeregt, denn der berühmte Gast galt als Mimose, und er hatte sich im Referentenvertrag ein paar ziemlich ungewöhnliche Sonderkonditionen reinschreiben lassen.
So sollten zum Beispiel eine Schachtel Mentholzigaretten und ein Aschenbecher auf dem Rednertisch stehen. Das Problem war nur: Spanien hatte sich kürzlich ein strenges Rauchverbot in öffentlichen Räumen gegeben, und schlimmstenfalls hätte jemand die Polizei rufen können, wenn sich der Altkanzler auf der Bühne eine Zig anzünden würde. Die Veranstalter hatten Angst, er könnte sauer werden und wutschnaubend abreisen.
Überhaupt eilte Schmidt der Ruf unter Siemensianern voraus, ein bärbeißiger Despot zu sein, der jedem den Kopf abbeißen würde, der ihm in die Quere kam. Was im Grunde einiges über die damalige Führungskultur bei Siemens sagte: Wahrscheinlich erwarteten sie nichts anderes…
Das Unkenrufen hatte auch auf mich Wirkung; jedenfalls war ich entsprechend nervös, als ich mit Helmut Schmidt die paar Schritte von der ersten Stuhlreihe zur Bühne ging. Er war schon damals nicht mehr besonders gut zu Fuß, und ich nahm ihn am Arm, als wir die drei Stufen hoch gingen. Und ich nutzte die Gelegenheit, um ihm ins Ohr zu flüstern. Sein Vortragsthema sollte laut Programm heißen: „The coming war between the Euro and the Dollar“. Und als guter Moderator hatte ich meine Hausaufgaben vorher gemacht und wusste, dass Schmidt und der französische Premier Valerie Giscard d’Estaing als die Väter des „Ecu“ galten, die einheitliche Umrechnungswährung, mit der die Wechselkurse zwischen D-Mark, Franc, Peseta & Co. stabil gehalten wurden. Somit galt der Ecu als ein wichtiger Vorläufer des Euro.
Ich fragte ihn also: „Herr Bundeskanzler, ist es in Ordnung, wenn ich Sie als einen der Väter des Euro ankündige? Darum geht es doch in Ihrem Vortrag.“
Er blieb kurz stehen, schaute mich an und schnauzte zurück: „Ich weiß noch nicht, worüber ich reden werde!“
Der geneigte Leser kann sich wahrscheinlich vorstellen, mit welch mulmigem Gefühl ich den Vortrag ankündigte und dann wieder rasch auf meinen Sitz zurückhuschte. Was wohl mit einem Moderator passieren würde, dem eine ganze Spitzentagung um die Ohren fliegt?
Und dann fing Helmut Schmidt an zu reden. Er sprach langsam und bedächtig, und zwar in fließendem, geschliffenem Oxford-Englisch. Und er sprach über so ziemlich alles – nur nicht über Euros und Dollars.
Stattdessen ging er systematisch die Brennpunkte der Weltpolitik durch, von Bonn und Berlin über Paris und London, über Bejing und Moskau nach Washington, New York und Dallas. Warum Dallas? Weil George W. Bush auf dem politischen Radarschirmen aufgetaucht war und Schmidt von einer Begegnung mit ihm in seinem Heimatstaat Texas berichtete.
Er war wunderbar! Er hatte jedes Detail im Griff, konnte klug abwägen und einleuchtende Lösungen vorschlagen für so ziemlich jede Krise der Welt. Und ich ertappte mich, wie ich dachte: „Der könnte ja jederzeit ins Kanzleramt zurückkehren und nahtlos weitermachen!“
Und ja, er zündete sich dabei eine Reno nach der anderen an. Und in der ersten Reihe machte es ihm seine Frau Loki nach. Darüber war zwar nichts im Vertrag gestanden, aber klar hatte man auch ihr einen Aschenbecher hingestellt, und klar hielt ihr irgendein Siemensianer jedes Mal sein Feuerzeug hin.
Meine Frau und ich saßen dann später mit Helmut und Loki Schmidt auf der Hotelterrasse beim Mittagessen zusammen, und ich fragte ihn: „Herr Bundeskanzler, sie haben ja so ziemlich alle Länder erwähnt, die heute politisch relevant sind, aber Sie haben nichts über Korea gesagt. Warum?“
„Weil ich in letzter Zeit nicht mehr da gewesen bin“, raunzte er.
Ob das denn hieße, dass er alle anderen Orte, die er in seinem Vortrag erwähnt hatte, kürzlich besucht habe?
„Klar“, sagte er. „Einmal im Jahr besuche ich meine Freunde. Henry Kissinger, Michael Gorbatshow und so. Wenn ich zurückkomme, bin ich wieder auf dem neuesten Stand.“
Ob denn eine solche Rundreise nicht etwas anstrengend sei für einen nicht mehr ganz jungen Mann, fragte ich vorsichtig. Und Helmut Schmidt lächelte plötzlich, was ich bislang noch nicht bei ihm gesehen hatte. „Ja, und es wird auch immer anstrengender,“ gab er zu. Früher habe es ja genügt, wenn man nach Washington fuhr und vielleicht noch einen Abstecher machte zu irgendeiner Eliteuni an der Ostküste. „Heute musst du nach Texas und nach Kalifornien, wenn du wissen willst, wie Amerika gerade tickt,“ sagte er und zündete sich wieder eine Reno an.
Später kamen wir dann doch auf Dollar, Euro und den Ecu zu sprechen, und Helmuth Schmidt kam nach ein oder zwei Gläschen spanischen Rotweins ein bisschen ins Erzählen. „Ich war damals in Paris bei meinem Freund Valerie zu Besuch. Wir saßen bei ihm im Wohnzimmer, und irgendwann haben wir unsere ganzen Schranzen rausgeschickt, haben ein Blatt Papier auf den Couchtisch gelegt und fingen an aufzuschreiben, wie wir uns so eine Zwischenwährung vorgestellt haben. Als wir fertig waren, haben wir unsere Leute wieder reingeholt, haben ihnen das Blatt in die Hand gedrückt und gesagt: ‚So wollen wir es haben – macht das!‘“
Es wurde ein langes, entspanntes Mittagessen in der spanischen Sonne, mit Krustentieren, Fisch und gute Weine. Loki Schmidt erzählte, dass sie ihren Mann immer auf Auslandsreisen begleiten würde, aber mit dem üblichen Damenprogramm hätte sie nichts am Hut. Schließlich war sie selbst eine studierte und sehr erfolgreiche Biologin, die sich vor allem für Flora und Fauna im Gastgeberland interessierte. Einmal bei einem Israel-Aufenthalt sei sie mit ein paar Professoren in den Sinai gefahren. Dort habe sie einen seltenen Strauch gefunden, der nur alle paar Jahre blüht. Ein Exemplar grub sie aus, nahm es mit und schenkte es dem Hamburger Park „Planten und Bloomen“, wo es immer noch zu bewundern sei. Helmut Schmidt hörte ihr als guterzogener Ehemann geduldig zu, obwohl er die Geschichte sicher schon hundertmal gehört hatte. Zwischendurch lächelte er zum zweiten Mal. „Ja, meine Hobbygärtnerin“, sagte er liebevoll.
Ich begleitete die beiden Richtung Taxi, wo die versammelte Siemens-Prominenz sie sofort umringte und in Beschlag nahm. Ich habe sie danach nie wieder gesehen. Aber als heute Morgen die Nachricht über den Ticker kam, war ich tief berührt. Fast war es, als hätte ich einen alten Bekannten verloren; jemanden, der mir einmal viel bedeutete.
Es gibt solche Menschen, die jeden, mit dem sie in Kontakt kommen, dauerhaft berühren. So einer war Helmut Schmidt – ein ganz Großer, eben. Er wird uns allen fehlen.