Das Amerika, in dem ich als Kind groß wurde, war ein ganz anderes als das Amerika um uns herum. Das lag daran, dass mein Vater Luftwaffenmajor war, und die US Air Force war eine der erste Institutionen in den USA, die sich sehr frühzeitig, nämlich direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, daran gemacht hat, Rassismus und Rassentrennung zu überwinden. Das taten die Luftwaffen-Generäle nicht aus der Güte ihres Herzens, sondern aus ganz praktischen Gründen: Da das Wartungspersonal weitgehend aus Schwarzen bestand und die Piloten weiß waren, hätte Streit zwischen den beiden wahrscheinlich zu häufigen Abstürzen geführt, also die Kampftauglichkeit der Flugflotte eingeschränkt.
Ich bin also in einer heilen Welt aufgewachsen, und in meiner Schule und in der Nachbarschaft gab es jede Menge Kinder dunkler Hautfarbe. Wir haben uns alle nichts dabei gedacht. Meine beste Freundin, als wir in San Antonio stationiert waren, war ein niedliches schwarzes Mädchen namens Fruzzy, und wir haben oft im gleichen Bett geschlafen, während unsere Etern draußen im Garten zusammengesessen sind.
Als ich Anfang der 60er nach Deutschland kam, gärte es außerhalb der Luftwaffenstützpunkte bereits kräftig. Wir hatten in Deutschland schon Fernsehen, und dort flimmerten Schwarzweißbilder über die großen Rassenunruhen in den Ghettos von Harlem und Los Angeles schon über den Bildschirm. 1967 gab es in Detroit 43 Todesopfer, 1189 Verletzte und 7000 Verhaftete. Ein Jahr später wurde Martin Luther King ermordet, und Amerika versank in einem Meer aus Blut und Wut.
Ich saß in unserem Wohnzimmer und konnte nicht glauben, was ich dort sah. Das war so gar nicht mein Amerika, und so ähnlich geht es mir heute wieder, wenn ich die Bilder aus Ferguson oder Minneapolis sehe. Denn eigentlich hatte ich gedacht, dass sich das Rassenproblem in den USA irgendwann von selbst lösen würde, und dass es den Schwarzen in meiner Heimat zwar immer noch nicht gut, aber wenigstens ein bisschen besser ginge.
Laut dem populären Narrativ der amerikanischen Geschichte machten schwarze Amerikaner im 20sten Jahrhundert so gut wie keine messbaren Fortschritte auf dem Weg zur Gleichberechtigung mit weißen Amerikanern, bis sich in den frühen 60er Jahren mit der Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetze und der Abschaffung der Rassentrennung plötzlich blitzschnell alles änderte. Würde man diese Version der Geschichte zeichnerisch darstellen, dann wäre sie eine lange, flache Linie, gefolgt von einem scharfen, dramatischen Aufschwung ab 1964. Das Ganze würde aussehen wie ein Hockeyschläger.
Jetzt haben der Politikwissenschaftler Robert D. Putnam und der Journalist Shaylyn Romney Garrett ein neues Buch geschrieben, The Upswing: How America Came Together a Century Ago and How We Can Do It Again, das diesem Narrativ grundsätzlich widerspricht. Sie haben Daten aus den letzten 100 Jahren untersucht aus den Bereichen Gesundheit, Bildung, Einkommen, Vermögen und Wahlen und glauben beweisen zu können: Es war alles ganz anders.
Die schwarzen Amerikaner bewegten sich in Wahrheit schon lange vor der Bürgerrechtsära in Richtung zumindest materiellem Gleichstand. Nach der Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetze von 1964 verlangsamten sich diese Entwicklung auf verschiedenen Gebieten oder kehrte sich sogar um!
„Das Verständnis des Wie und Warum zeigt nicht nur, warum Amerika heute so zersplittert ist, sondern beleuchtet auch den Fortschritt (oder nicht) von Amerika auf dem Weg hin zu einer vollkommeneren Union“, schreiben sie.
- So verringerte sich der Abstand in der Lebenserwartung zwischen Schwarze und Weiße am allerschnellsten zwischen 1905 und 1947. Danach nahm sie wieder zu uns erreichte 1995 wieder den Stand von 1961. In den letzten zwei Jahrzehnten gab es wieder etwas Fortschritt, die aber zum Teil auf eine Zunahme der vorzeitigen Todesfälle unter Weißen aus der Arbeiterklasse zurückzuführen sind.
- Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß bei den Highschool-Abschlüssen verbesserte sich zwischen den 1940er und den frühen 1970er Jahren dramatisch, verlangsamte sich aber danach und erreichte nie volle Parität. Der College-Abschluss folgte bis 1970 dem gleichen Pfad, dann kehrte er sich scharf um.
- Die rassische Integration in der primären und sekundären Bildungsbereich (K-12 education) auf nationaler Ebene begann viel früher, als oft angenommen wird. Nach der bahnbrechenden Entscheidung des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 1954 („Brown v. Board of Education“) beschleunigte sie sich drastisch, flachte aber Anfang der 1970er Jahre wieder ab. Heute sei hier und da sogar ein umgekehrter Trend zur „Resegregation“ zu beobachten.
- Die Einkommenslücke zwischen den Rassen schrumpfte zwischen 1940 und 1970 am stärksten. Ab 2018 waren die Verdienstunterschiede zwischen Schwarzen und Weißen jedoch fast genau so groß wie im Jahr 1968, 50 Jahre zuvor. Selbst wenn man das Aufkommen der schwarzen Mittelschicht berücksichtigt, ist die soziale Mobilität unter die schwarzen Amerikaner insgesamt in den letzten Jahrzehnten gleichgeblieben oder gesunken.
- Die Kluft im Wohneigentum verringerte sich zwischen 1900 und 1970 stetig, stagnierte dann und kehrte sich wieder um. Das Wohlstandsgefälle zwischen den Rassen vergrößert sich jetzt noch weiter, da die Wohneigentumsquote der schwarzen Bevölkerung gerade sinkt.
- Die Daten zu den nationalen Trends bei der Stimmabgabe nach Rasse sind lückenhaft, aber der Süden erlebte zwischen 1940 und 1970 einen dramatischen Anstieg der schwarzen Wählerregistrierung, gefolgt von einem Rückgang und einer Stagnation. Die Daten über die nationale Wahlbeteiligung der Schwarzen deuten darauf hin, dass fast alle Fortschritte auf dem Weg zur Gleichheit mit den Weißen in Sachen politischer Partizipation zwischen 1952 und 1964 stattfanden, also vor der Verabschiedung des Wahlrechtsgesetzes. Über den Rest des Jahrhunderts kamen sie fast vollständig zum Erliegen.
Diese Daten offenbaren eine zwar langsame, aber unverkennbare Verbesserung der Lage der schwarzen Bevölkerung bis ungefähr 1970, wo es zu einem Stillstand kam. Das Bild vom Hockeyschläger der historischen Stenografie, so die Autoren, sei schlichtweg falsch.
Die Zugewinne der schwarzen Amerikaner waren in den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts deutlich und überraschend konstant, aber sie waren fast ausschließlich die Folge „Great Migration“ zwischen 1916 und 1970, als mehr als sechs Millionen Schwarze aus dem Süden flohen und sich ein neues Lebens in Städten wie Chicago, Los Angeles oder Philadelphia suchten, wo sie hofften, Zugang zu besserer Gesundheitsversorgung, Bildung und wirtschaftlichem Aufstieg zu bekommenAber auch dort waren sie mit anhaltender Ausgrenzung, Rassentrennung und rassistischer Gewalt konfrontiert.
Es war der unerschütterliche Glaube der schwarzen Amerikaner an das Versprechen des amerikanischen „Wir“ und ihre Bereitschaft, gegen alle Widerstände ihren Platz darin einzufordern, der sie zwischen dem Ende des Wiederaufbaus in den 1870er Jahren und dem Ende der Bürgerrechtsbewegung in den 1970er Jahren vorantrieb. Gemeinsam verringerten diese Migranten und ihre Kinder und Enkelkinder in diesen Jahren die Kluft zwischen Schwarz und Weiß langsam, aber stetig.
In den letzten 50 Jahren ist dieser kollektive Fortschritt jedoch zum Stillstand gekommen, und viele, die so hart für diesen Fortschritt gekämpft haben, müssen nun erleben, wie er sich wieder umkehrt.
Es ist vor diesem Hintergrund der totgeborenen Hoffnungen und des Generationswechsels, wo wir die Demonstranten von Black Lives Matter einordnen müssen. „Die jüngsten Polizeimorde waren zweifellos Funken in den trockenen Zunderbüchsen der überpolizeilich überwachten schwarzen Gemeinden“, schreiben Garrett und Putnam. „Aber diese Gemeinden befinden sich auch in einer ausgedörrten Landschaft stagnierender Fortschritte auf dem Weg zur Rassenparität, ein halbes Jahrhundert nach der Verabschiedung bahnbrechender Bürgerrechtsgesetze und eineinhalb Jahrhunderte nach dem Wiederaufbau“, konstatieren sie.
Auch ich habe immer an die Mär vom Eishockeyschläger geglaubt und daran, dass Amerika das schreckliche Erbe der Sklaverei eines Tages überwinden und zu Freiheit, Gleichheit un Brüderlichkeit für alle gelangen wird. Ich – und meine schwarzen Mitbürger – sind bitterlich enttäuscht worden. Ich – und sie – haben kurz Hoffnung geschöpft, als Barack Obama ins Weiße Haus einzog. Aber seit ihm Donald Trump gefolgt ist, habe ich – und haben sie – den Eindruck, das alles nur noch schlimmer geworden ist.
Man könnte jetzt meinen, unter Joe Biden würde es mit den Schwarzen wieder aufwärts gehen. Leider sprechen die historischen Daten aber eine andere Sprache. Dazu sitzt der Rassismus in meiner Heimat viel zu tief.