Was wir im Augenblick durchleben ist die erste echte Finanzkrise im Zeitalter des Internet. Vergessen Sie die Dotcom-Blase – das war, um Alan Greenspan zu zitieren, nichts als „irrationaler Überschwang“. Heute ist das Internet ein Teil des Problems. Vielleicht ist es auch ein Teil der Lösung.
Auslöser der Finanzkrise (nicht der möglicherweise daraus entstehenden Wirtschaftskrise) sind zwei Dinge: Einmal immer kompliziertere und selbst für Fachleute nicht mehr zu überblickende Finanzprodukte wie Derivate, Credit Swaps, Subprime-Hypothekenfonds und „asset-backed securities“, und zum anderen die immer raffinierteren elektronischen Trading-Systeme, über die Kapitalflüsse in Milliarden völlig unreguliert um den Globus gelenkt werden können. Sie möchten einen Credit Swap von $100 Millionen aufsetzen? Ein Instant Message an einen Hedge Fund auf den Caymans genügt.
Derivate sind heute, wie Paul Kedreosky in „Newsweek“ treffend schreibt, heute „eine Art Kreuzung zwischen Dorfklatsch und Videospiel“: Triviale Konversationen über Blackberry mutieren plötzlich zu Transaktionen, unbeaufsichtigt, unkontrolliert, aber am Schluss mit einem Smiley signiert.
Das globale Finanzsystem wird durch die Technology der New Economy in atemberaubendem Tempo beschleunigt, die weltweiten Regulierungssysteme und Bürokratien hängen immer noch im Analogzeitalter. Jeder Amateur-Investor mit einem Online-Maklerkonto und einem Breitband-Anschluss kann heute ein Global Player sein. Aber unsere Möglichkeiten, in potenziell hochtoxischen Finanzprodukten zu handeln hat unsere Möglichkeiten, sie zu verstehen, längst hinter sich gelassen. Ja, das Internet hat die Informationen im Finanzmarkt demokratisiert. Analysten haben keinen Zeitvorsprung mehr vor dem Anleger. Elektronische Handelsplattformen haben die Maklerkommissionen gegen Null gedrückt. Wir können per Laptop oder SmartPhone von jedem Ort der Erde Order platzieren. Investor-Communities sind eine Fundgrube von Insider-Tipps. Alles gut und schön.
Gleichzeitig hat uns das Internet so mit Informationen zugemüllt, dass selbst Profis längst den Überblick verloren haben. Wie sonst lässt sich die Hypothekenkrise in den USA erklären: Alles stand seit Jahren schon im Internet! Wieso sind wir alle so überrascht worden?
Weil der Mensch sich vor der Informations-Flut gerne in ruhige Nischen verzieht, in enge Affinitäts-Gemeinschaften, Communities mit Tunnelblick, denn nur dort hat er noch das Gefühl zu verstehen, was los ist. Statt den Blick fürs große Ganze zu öffnen setzt das Internet uns Scheuklappen auf. Besagter Alan Greenspan war es, der davon schwärmte, das Internet ermögliche es der Finanzwelt, „Risiko zu verteilen“ und „komplexe Finanzprodukte zu schaffen, zu bewerten und zu handeln“. Was er und seine Anhänger leider völlig übersehen haben ist das so genannte „Agentur-Problem“: Sobald die Komplexität einer Transaktion oder eines Finanzprodukts zu groß wird (wie beispielsweise bei den in immer feinere Scheiben zerteilten und wie Salatblätter vermischten Einzelhypotheken), neigt der Durchschnittsmensch dazu, sich nicht mehr selbst darum zu kümmern – er delegiert die Verantwortung an einen Intermediär. Auf den ist er dann angewiesen – auf Gedeih oder Verderb.
Das Internet ist also schuld an dem globalen Zusammenbruch der Finanzmärkte – aber es ist auch ein Teil der Lösung. Der einzige Grund, weshalb wir (noch) keine Weltwirtschaftskrise haben, gegen die 1929 wie eine Sommerfrische wirkt, ist weil das Prinzip der Vernetzung funktioniert hat! In Ermangelung von verbindlichen Regeln und wirksamen Kontrollinstanzen hat sich insbesondere die Finanzwelt in den letzten Wochen wie ein Social Network verhalten. Politiker, Zentralbanker, Finanzbehörden und Verbände haben unabhängig voneinander reagiert. Sie haben sich aber auch in einem Tempo ausgetauscht und sich auf Lösungen geeinigt, das früher unvorstellbar gewesen wäre. Sie sind sozusagen dem Modell des Internet gefolgt, wo es keine zentralen Instanzen gibt, wo aber die Gruppenintelligenz in beinah idealer Weise zur gemeinsamen Problembehandlung fokussiert werden kann.
Das Internet ist schuld an der globalen Finanzkrise, weil sie die systematischen Verfehlungen mit „cyberspeed“ wie ein Pestvirus rund um den Globus verbreitet hat. Sie hat es aber zugleich den Verantwortlichen ermöglicht, schneller und abgestimmter als jemals zuvor darauf zu reagieren – so, als hätten sie alle in einem Raum gesessen, sich gegenseitig in die Bücher geschaut und in enger Abstimmung gehandelt.
Es gibt Lehren zu ziehen aus der ersten globalen Finanzkrise des Internet-Zeitalters. Wir brauchen Online-Systeme, die in der Lage sind, selbst komplexeste Finanzinformationen so darzustellen, dass sie ein Mensch verstehen kann. Wir müssen den Wildwuchs des „rogue trading“ per Instant Messaging und anderer Kommunikationssysteme begrenzen, die heute noch außerhalb jeglicher Compliance-Aufsicht stehen. Wir müssen Systeme schaffen, die Händler besser überwachen und Transparenz im Markt schaffen – damit wir nicht wieder auf dem falschen Fuß erwischt werden. Wenn und das gelingt, wird uns das Internet – mit etwas Glück – helfen, eine Wiederholung der finanziellen Kernschmelze der letzten Monate zu vermeiden. Technologie kann die Finanzmärkte sicherer, stabiler und überschaubarer machen. Wir müssen es als Anleger und als Bürger nur laut genug fordern.