1873 schrieb Mark Twain, deutschen Lesern wohl eher als Autor von Kinderbüchern wie Huck Finn oder Tom Sawyer bekannt, einen bitterbösen Roman (heute würden wir dazu wahrscheinlich „Realsatire“ sagen), in der er mit der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit abrechnete und der er den Titel gab: „The Gilded Age“ (zu Deutsch: „Das Blattgold-Zeitalter“).
Twain hatte den Wilden Westen noch selbst erlebt: 1835 als Samuel Langhorne Clemens in Missouri geboren, verbrachte er seine Jugend in Hannibal, einer kleinen Stadt am Ufer es Mississippi, die damals noch die Grenze zwischen dem bereits dichtbesiedelten Osten und dem „wilden“ Westen der Vereinigten Staaten bildete. Er wuchs unter Glückspielern, Goldgräbern, Huren, Revolverhelden und entlaufenen Sklaven auf, die er später in seinen Romanen und Reisetagebüchern so brillant beschrieb. Später arbeitete er als Raddampfer-Pilot auf dem „Big Muddy“, ein Fluss mit vielen Untiefen. Es war deshalb nötig, ständig das Lot zu schwingen, um die Wassertiefe zu messen. „Mark Twain!“ bedeutete, dass ein Schiff sichere zwölf Fuß unter dem Kiel hatte, und diesen Ausruf wurde später sein Künstlername.
Wirtschaftlich war es eine Blütezeit. Der Bürgerkrieg war 1866 mit dem Sieg der Nordstaaten blutig beendet worden, die Eisenbahn verband seit 1800 beide Küsten des Landes, nur in der Mitte klaffte ein großes weißes Loch auf der Landkarte, der sich aber langsam zu füllen begann. Goldfunde in Kalifornien (1848), Colorado (1858) und South Dakota (1874) hatten riesige Kapitalreserven geschaffen, die gewitzte Geschäftsleute wie John D. Rockefeller, Andrew Carnegie, Cornelius Vanderbilt und John Pierport Morgan dazu benutzten, um riesige, marktbeherrschende Monopole zu schaffen in Schlüsselbranchen wie Stahl, Erdöl, Eisenbahnen und Banken.
Gleichzeitig setzte die bislang größte Einwanderungswelle in der amerikanischen Geschichte ein, die zwischen 1865 und 1890 mehr als zehn Millionen Immigranten ins Land schwemmte, die von den „Robber Barons“ schamlos ausgenutzt und ausgebeutet wurden. Was nach außen hin wie eine Zeit ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwungs und technologischen Fortschritts wirkte, war für die meisten Amerikaner eine Zeit von großer Armut und ungezügelter Korruption, vor allem in den Städten. Die „Trusts“, wie sie auf Englisch heißen, trieben die Preise nach Belieben in die Höhe, kürzten Löhne und riefen, wenn ihre Arbeiter zum Streik aufriefen, die Polizei oder die Nationalgarde zu Hilfe, denn sie konnten sich der Hilfe ihrer gutgeschmierten Spießgesellen in den Rathäusern und Abgeordnetenkammern sicher sein
Für die Gierkapitalisten war Amerika in dieser Zeit tatsächlich das vielzitierte Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber der kleine Mann ließ sich das nicht unbegrenzt gefallen. Schon zu Beginn der 1890er Jahre begann sich eine Gegenbewegung zu bilden, die schließlich in das mündete, was in der amerikanischen Geschichte das die „Progressive Era“, das Zeitalter des Progressivismus, bezeichnet wird. Zwischen 1890 und 1920 hat Amerika den Wilden Westen hinter sich gelassen und sich in eine (für die damalige Zeit) vorbildlichen Sozialstaat gewandelt. Die Probleme, die durch ungebremste Industrialisierung, Urbalisierung, Immigration und Korruption bis auf höchste Ebene entstanden waren, wurden eines nach dem anderen angegangen und gelöst – teilweise bis heute. Präsidenten, die heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind, wie Chester Arthur, Grover Cleveland, Benjamin Harrison, William McKinley und William Taft, setzten Reformen in der Verwaltung, in der Finanzaufsicht und im Arbeitsrecht in Gang, die bis ins 21ste Jahrhundert überdauert hatten.
Der größte von ihnen aber war Theodore „Teddy“ Roosevelt. Am 14. September 1901 als 26ster Präsident der USA ins Amt eingeschworen, war Roosevelt den Wählern vor allem als Haudrauf und Kotzbrocken bekannt. Er hatte im Krieg mit Spanien 1898 an der Spitze einer wilden Freischärlertruppe, den „Rough Riders“, den Jan Juan Hügel auf Kuba gestürmt und war so zu Lebzeiten zur Legende geworden. Nach der Präsidentschaftswahl von 1900 macht ihn der William McKinley zu seinem Vizepräsidenten, und als McKinsey ein Jahr später der Kugel eines Anarchisten zum Opfer fiel, zog Roosevelt mit seiner zweiten Frau Edith ins Weiße Haus ein.
Bereits zehn Jahre vorher hatte der US-Kongress mit dem „Sherman Act“ das erste einer ganzen Serie von Anti-Monopolgesetzen erlassen. John Sherman war ein republikanischer Senator aus Ohio, der das Gesetz mit der Gefahr begründete, die ausufernde Macht und die Ausbeutung der Bürger durch die großen Räuberbarons könne die Sozialisten in Amerika bestärken und zu einer blutigen Revolution führen. Das Gesetz wurde vor allem von den konservativen politischen Kräften des Landes unterstützt und im Repräsentantenhaus sogar einstimmig verabschiedet.
John Sherman begründete das Gesetz damit, dass es zwar bereits früher Monopole gegeben habe, jedoch keine solchen „Giganten“ ohne jede ernsthafte Konkurrenz. Als man allerdings versuchte, das neue Gesetz anzuwenden, zogen die Räuberbarone vors Oberste Gericht und bekamen dort teilweise Recht.
Erst Roosevelt machte Ernst mit dem Kampf gegen die Monopole, weshalb er als „Trust Buster“, als Monopol-Zerschlager, in die Geschichte einging. Im November 1906 erhob die Regierung Anklage gegen Rockefellers übermächtigen Konzern Standard Oil, der nach einem fünfjährigen Prozess damit endete, dass Standard Oil „entflochten“ und zwangsweise in 34 Einzelunternehmen aufgeteilt wurde.
Rockefeller selbst erlitt dadurch im Übrigen keinen Schaden – im Gegenteil. Da er davon ausging, dass der durch das Urteil ausgelöste Preisverfall seiner Aktien an der Börse nur von kurzer Dauer sein würde, kaufte er so viele Aktien, wie er konnte, zurück. Seine Rechnung ging auf: Der einsetzende Boom des Automobils trieb die Nachfrage nach Erdölprodukten steil in die Höhe, und Rockefeller verdiente mit dem Wiederverkauf seiner Aktien schätzungsweise 200 Millionen Dollar – umgerechnet rund sechs Milliarden nach heutigem Geldwert – und wurde so der reichste Mann Amerikas, der Bill Gates seiner Zeit.
Roosevelt ging die Monopolisten einer nach dem anderen an. Den Industriellsten J. Pierpont Morgan und sein Eisenbahnkartell Northern Securities zerrte er ebenfalls vor den Supreme Court und gewann dort, allerdings denkbar knapp mit einer Stimme Mehrheit, den Prozess, und Northern Securities wurde abgewickelt.
Nicht, dass Roosevelt im Prinzip etwas gegen Konzerne gehabt hätte. „Groß“ bedeutete für ihn nicht notwendigerweise „schlecht“. Er forderte nur ein vernünftiges Augenmaß. Geiz war für ihn nicht geil, und Gier sollte bekämpft werden. Was er mehr oder weniger aus dem Bauch heraus empfang wurde später in einer Serie von Gerichtsurteilen als „Rule of Reason“ kodifiziert, erstmals 1911 im Prozess gegen Standard Oil. Im gleichen Jahr wurde die American Tobacco Company, ein ähnlicher Moloch, zerschlagen. In den Folgejahren wurde diese „Regel des gesunden Menschenverstands“ immer wieder zitiert, wenn es um übermächtige Firmengebilde ging.
Dieses Rechtsprinzip hat lange überdauert. Noch 1982 wurde es beim Prozess gegen AT&T angewandt: Die American Telephone & Telegraph Company, als „Big Bell“ bekannt, war vom Erfinder des Telefons, Alexander Graham Bell, gegründet worden und wuchs zu einem ganz Amerika überspannendes Netz heran. Die US-Regierung hatte den Prozess bereits 1974 angestrengt und nach acht Jahren schließlich gewonnen. Aus der anschließenden Aufteilung des Konzerns ging AT&T als der alleinige Betreiber eines überregionalen Netzwerks hervor. Sieben unabhängige regionale Telefongesellschaften teilten sich das operative Geschäft in den einzelnen Landesteilen auf.
Diese so genannte „Baby Bells“ begannen später, sich miteinander zu verbünden (Bell Atlantic kaufte 1996 NYNEX und fusionierten später mit Verizon) oder wurden später von AT&T wieder zurückgekauft. Kritiker werfen den Aufsichtsbehörden vor, gegen den Geist des „Rule of Reason“ gehandelt und AT&T sozusagen durch die kalte Küche zu ihrer einstigen Machtstellung zurückverholfen zu haben. Aber statt eines einzigen Monpolisten gibt es in Amerika heute mit Verizon und Century Link zwei ernstzunehmenden Konkurrenten im Festnetzgeschäft. Und mit dem Aufkommen des Smartphones wurden die Karten ohnehin neu gemischt: Heute kämpfen neben AT&T Mobility und Verizon Wireless vor allem T-Mobile US und Sprint um Kundschaft.
Die Lehren für uns aus dieser Geschichte sind sonnenklar. Erstens haben Monopole langfristig keine Chance. Irgendwann überziehen sie, und in Politik und Öffentlichkeit der gesunde Menschenverstand ein. Was wir heute brauchen ist ein „digitaler Hausverstand“. Doch dazu später mehr.
Zweitens ist keiner so groß, dass er nicht zu Fall gebracht werden kann. Spätestens als Lehmann Brothers im Strudel der Finanzkrise 2008 verschwand, weil es die US-Regierung ablehnte, der maroden viertgrößten Investmentbank Amerikas mit Steuergeldern zu retten und lieber den Verlust von 25.000 Arbeitsplätzen in Kauf nahm. Es war die größte Firmenpleite der Finanzgeschichte, und der wirtschaftliche Schaden wird heute auf fast 50 Milliarden US-Dollar schätzt. Woraus wir lernen: Der alte Börsianerspruch „too big to fail“ („zu groß, um sie Bankrott gehen zu lassen“) gilt nicht mehr.
Apple (Börsenwert: über $900 Milliarden), Google ($800 Mrd.), Amazon ($790 Mrd.) und Facebook (nach dem aktuellen Datenskandal „nur“ noch ca. $500 Mrd): Sind sie wirklich aufgrund ihrer schieren Größe unantastbar? Wohl kaum.