Das Wort „Flash“ hat im Englischen eine Reihe von Bedeutungen, die allesamt etwas Flüchtiges, Halbseidenes bezeichnen. Zunächst bedeutet es einfach „Schein“ oder „Blitz“, also ein kurzlebiges Aufflackern eines Lichtstrahls oder Blitzes („a flash of lightning“) – daher auch der neuzeitliche Begriff des spontanen „Flash Mob“. Die Älteren unter uns werden sich noch an Mick Jagger’s „Jumpin‘ Jack Flash“ erinnern, in dem Keith Richards einen elektrisierender, dreieinhalbminütigen Gitarren-Riff losließ, den der Kritiker Steven Appleford als „Funken sprühenden, perfekten teuflischen Ausbruch voller roher, treibender Kraft und ursprünglicher Energie“ beschrieb. „Flash“ kann aber auch im Sinne von „mehr Schein als Seinen“ (wie es in dem unvergesslichen Kulturführer „Musikbluff für Anfänger“ des seligen Satiremagazins „Pardon“ hieß) verwendet werden, also eher abfällig. Ein „Flash Cove“ war im 19ten Jahrhundert eine geläufige Bezeichnung für einen Gauner oder Taschendieb.
So muss man auch den Titel des aktuellen Bestsellers von Michael Lewis verstehen, der in „Flash Boys“ (bei Campus unter dem Titel „Flash Boys – Revolte an der Wall Street“ auf Deutsch erschienen) einen der größten und gleichzeitig am hartnäckigsten ignorierten Finanzskandale der Neuzeit enthüllt. Es geht um superschnelles Handelssysteme und so genanntes „Flash Trading“, die aus dem großen weltweiten Börsenspiel ein abgekartetes Geschäft gemacht haben, bei dem jeder, der sein Geld in Finanzprodukte welcher Art auch immer anlegt, systematisch von einer Handvoll skrupelloser Abzocker angeschmiert und ausgenommen wird.
Anders ausgedrückt: Jeden Tag werden Milliarden von dem abgeschöpft, das Anleger zur Finanzierung von Unternehmen auf der ganzen Welt zur Verfügung gestellt haben. Statt dessen landet das Geld in der Tasche von Finanzhaien, Investmentbankern und Computerprofis, die Hand in Hand arbeiten, um kleine und große Anleger systematisch auszunehmen wie eine Weihnachtsgans. Und das Schlimmste ist: Es ist völlig legal! Zynisch ja. Unmoralisch auch. Aber leider (noch) nicht verboten.
Das Problem war bisher, dass niemand wirklich verstanden hat, was da abgeht. Ich auch nicht, gebe ich zu. Und das, obwohl ich meinen Zuhörern seit Jahren in Vorträgen vom so genannten HFT („High-Frequency Trading“) erzähle, den superschnellen Handelssystemen, mit denen sich Börsenhändler einen winzigen Zeitvorsprung vor allen anderen erkaufen können. Wenn ich winzig sage, dann meine ich das auch so: Es geht um so genannte Latenzzeiten, also die Geschwindigkeit, mit der digitale Informationen von einem Computer zum anderen übertragen werden. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Licht und anderen elektromagnetischen Wellen beträgt, wie jeder Pennäler gelernt hat, knapp 300.000 Kilometer pro Sekunde. Ein Computersignal könnte also theoretisch in einer Sekunde fast 50mal um die Erde rasen. Stimmt nicht ganz, weil die heute verwendeten Lichtleiter unterwegs das Signal stark verlangsamen, aber immerhin: Von meinem Computer bis, sagen wir mal, zu einem Handelssystem in Frankfurt braucht meine Order nur ein paar Mikrosekunden. Das ist ungefähr zehnmal schneller, als Sie und ich mit dem Auge blinzeln können, wie Lewis dankenswürdigerweise in seinem Buch erklärt.
Computersignale im Internet-Zeitalter sind also sehr schnell – aber nicht schnell genug, wie es sich herausstellt. Denn wenn es jemand schafft, schneller zu sein als die Latenzzeit der Börsensysteme, dann kann er in der Zwischenzeit versuchen, die anderen Anleger auszutricksen. Angenommen, ich habe ein oder zwei Mikrosekunden Zeit und weiß, dass jemand in Chicago eine größere Menge Apple-Aktien zum aktuellen Kurs von, sagen wir, €373 verkaufen will. Dadurch sinkt der Kurs der Aktie in Chicago auf, sagen wir, €372,99. Wenn er schnell genug ist, kann jemand meine Aktien kaufen und sofort wieder an der Börse in New York, London, Frankfurt oder sonst wo für €373 verkaufen, bevor die anderen Börsenplätze überhaupt mitbekommen haben, dass sich der Kurs in Chicago gerade geändert hat. Er verdient also einen Cent, was zunächst einmal nicht nach viel klingt, aber es summiert sich. Alleine an der Wall Street wechseln jeden Tag Aktien im Wert von ungefähr $50 Milliarden den Besitzer. Nehmen wir an, der Flashhändler ist fleißig und kassiert davon nur ein Promille – dann sind das schlappe fünf Millionen am Tag.
Wie gesagt: Das ist Geld, das Anleger eigentlich in Firmen stecken wollten, um Jobs zu schaffen und die Wirtschaft anzukurbeln. Ja, und um selbst Gewinn zu machen, das ist richtig. Aber so funktioniert die Marktwirtschaft – oder funktionierte sie, bis die Flash Boys kamen und daraus einen riesigen, superschnellen Selbstbedienungsladen machten.
Wie gesagt: Bislang hat noch keiner außer ein paar gewieften Schnellhändlern verstanden, wie das geht, aber dank Michael Lewis und einem Buch kann jetzt jeder hinter die Kulissen blicken. Das Buch ist selbst für Laien verständlich und außerdem sehr spannend geschrieben. Lewis hat das Stilmittel der Reportage für sein Enthüllungsbuch gewählt, erzählt also die Geschichte mehrerer Leute, die selbst lange Jahre als Börsianer gearbeitet haben und sich zuerst gewundert haben, dass sich der Wert einer Aktie immer dann kurzfristig veränderte, wenn sie im Handelssystem auf „Enter“ gedrückt haben: Plötzlich war das Papier immer ein bisschen mehr oder weniger wert, als sie eigentlich vorhatten zu bezahlen, je nachdem, ob sie kaufen oder verkaufen wollten. Aber da es ja immer nur um Minibeträge ging, regten sie sich nicht besonders auf. Bis sie irgendwann merkten, dass sie eigentlich immer irgendwie ein kleines bisschen mehr bezahlen mussten oder ein kleines bisschen weniger bekamen, als sie gedacht hatten. Beim Protagonisten des Buchs, Brad Katsuyama, dem ehemaligen Chefhändler der Royal Bank of Canada, summierten sich die winzigen Differenzen am Jahresende zu einem Verlustgeschäft.
Das Buch ist voll von Zitaten und gut erzählten Geschichten, zum Beispiel von einem, der ein eigenes kerzengerades Glasfaserkabel von Chicago nach New Jersey quer durch das Allegheny-Gebirge legen ließ, um noch ein paar Mikrosekunden von der Übertragungszeit abzuschneiden, und der damit steinreich wurde. Und das ist genau das Problem des Buchs: Es liest sich mehr wie ein Roman und weniger wie eine echte Dokumentation. Das ist sicher gut für die Auflage, aber schlecht für die betrogenen Geldanleger. Man sieht beim Lesen (und ich habe das Buch in einem Rutsch innerhalb von 24 Stunden gelesen!) vor seinem Geistesauge schon Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle.
Was man nicht sieht ist ein weltweiter Aufschrei der Entrüstung, Untersuchungsausschüsse in den Parlementen, Politiker, die lautstark eine grundlegende Reform der Finanzmärkte fordern, Aufsichtsämter, die an dem Problem arbeiten oder Staatsanwälte, die Ermittlungen aufnehmen.
Im Gegenteil: Die Welt wurschtelt weiter wie bisher. Wirtschaftsjournalisten, die sich sonst gerne als die Pitbulls der Presselandschaft gerieren, sind plötzlich fromm wie Osterlämmer. Anleger sollten sich „vorsehen“, kommentierte handwarm die „Welt“ – als ob es irgendwie möglich wäre, sich als Investor zu schützen, wenn das ganze System durch und durch korrupt ist! Der einzige vernünftige Rat müsste doch lauten: Kauft keine Aktien oder Finanzprodukte mehr! Jedenfalls so lange nicht, bis der Hochfrequenzhandel von den Aufsichtsorganen als das erkannt und gebrandmarkt wurde, was es in Wahrheit ist, nämlich eine hochtechnisierte Form des (illegalen) Insiderhandels.
Aber darauf können wir wohl lange warten. Warum, das sagt uns Lewis übrigens auch in seinem Buch. Als Brad Katsuyama in einer Besprechung beim SEC, der amerikanischen Finanzaufsichtsbehörde, ein System vorschlägt, die den Zeitvorsprung der Flash-Jungs zunichte machen würde, entrüstete sich angeblich ein Beamter. Das sei „unfair gegenüber den Hochfrequenzhändlern“.
Erst später habe er durch eine interne Studie erfahren, dass seit 2007 mehr als 200 SEC-Mitarbeiter die Seiten gewechselt und zu HFT-Firmen gewechselt sind, wo sie ein Vielfaches von dem verdienen, was ihnen Vater Staat dafür bezahlt, darauf zu achten, dass die Spielregeln der Märkte fair sind und eingehalten werden. Wie sagte doch Juvenal: „Wer schützt uns vor unseren Beschützern?“ Wer wohl?