Damit haben sie bei IBM bestimmt nicht gerechnet, wetten? Dass nämlich die Mitarbeiter virtuell auf die Straße gehen würden.
Ich kann mich noch gut an die stolzgeschwellten Brust erinnern auf der CeBIT, als mir einer der IBM-Oberen die Strategie erklärte, mit der sich der Big Blue ganz groß in der VR-Plattform „Second Life“ etablieren wolle. Auf den feinpixelig programmierten Bürotürmen virtueller Niederlassungen sollten künftig riesige IBM-Logos prangen, glückliche Mitarbeiter sollten durch die Office Parks zu virtuellen Meetings fliegen, wo sie sich unmittelbar, Avatar zu Avatar, gegenübersitzen und gewichtige Geschäftsentscheidungen treffen sollten, ohne dazu ein Flugzeug besteigen oder auch nur nach Nebenan in den Konferenzraum gehen zu müssen. Die schöne neue Welt der Arbeit war das, was sie mir in glühenden Farben ausmalten, und ich muss gestehen, dass mir bei dem Gedanken die Gänsehaut kam.
Nun, Second Life hat sich ja wohl als ziemliche Eintagsfliege erwiesen. Jedenfalls berichtet die Kultzeitschrift „Wired“ von leerem Luftraum, verwaisten Avataren und tapferen, aber einsamen Unbeirrbaren, die verloren durch die virtuelle Landschaft irren auf der Suche nach den vielen Millionen Gleichgesinnten, denen das hier und jetzt angeblich viel zu fad sei und die deshalb ins Land des ewigen Sonnenscheins und der unentwegten Interaktion ausweichen.
Ein bisschen Schadenfreude habe ich, ehrlich gesagt, bei der Lektüre schon empfunden, denn der Gedanke an den Nonstop-Cluburlaub im Cyberspace kam mir von Anfang an nicht besonders reizvoll vor. Meine eigenen Flugversuche mit dem Avatar endeten denn auch ziemlich bald, weil ich erstens nicht so recht den Anschluss fand und zweitens es im richtigen Leben so viel zu tun gab, dass ich wohl auch nicht den nötigen Zeitaufwand betreiben konnte.
Ich hatte das Thema Second Life also eigentlich innerlich abgehakt, bis ich auf einer Tagung am Tegernsee den Welf Schröter kennenlernte. Welf ist Gewerkschaftler, Mitbegründer und Leiter des Forums Soziale Technikgestaltung des DGB Baden-Württemberg und ein außerordentlich intelligenter und witziger Typ. Gäbe es mehr von seiner Sorte in Second Life, ich ginge wahrscheinlich auch wieder öfter hin. Er referierte über die kommende totale Flexibilisierung von Arbeitsplätzen, die seiner Meinung nach mit einer zunehmenden Entbetrieblichung der Arbeit einhergehen und damit womöglich zum Ende der Festanstellung führen wird, was wohl mit erheblichen sozialen Konsequenzen verbunden sein wird. Er warnt im übrigen davor, in der Diskussion um mobile Arbeit einfach das traditionelle Verständnis von Arbeits- und Arbeitsplatzverhältnissen aus dem 20sten Jahrhundert ins 21ste zu übernehmen und das Wörtchen „mobil“ davor zu setzen. Unter anderem wäre damit ein massiver Einflussverlust sowohl der Gewerkschaften als auch der A
rbeitgeberverbände verbunden. Der Mitarbeiter im virtuellen Raum wäre in der Lage, sich zu emanzipieren und sozusagen selbst für Rationalisierung seiner Arbeitswelt zu sorgen, statt immer nur umgekehrt.
Es war aber ein Nebensatz von ihm, der mich besonders faszinierte, denn er zeigte, dass die Zukunft wieder einmal bereits begonnen hat, bevor ich es überhaupt mitbekommen habe. IBM-Mitarbeiter in Italien haben nämlich Second Life als Mittel im Arbeitskampf entdeckt und gehen dort dieser Tage auf die virtuelle Strasse, um gegen eine von der Geschäftsleitung jüngst beschlossene Kürzung ihrer Gewinnbeteiligungen zu protestieren – und alle, alle sollen mitmachen!
Wer will, kann sich einfach einen virtuellen Körper überstülpen und sich den kunterbunten Demo-Gruppen anschließen, die den Bossen auf Italienisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und vermutlich auch in jeder anderen gewünschten Sprache die Meinung sagen wollen und die Stimme gegen Ausbeuterei und soziale Ungerechtigkeit erheben wollen. Der internationale Gewerkschaftsbund hat sich solidarisch erklärt und bietet auf seiner Website sogar Anleitung und Aufmunterung für alle, die den Aufstand der Avatare unterstützen wollen.
Ob ich allerdings selber mit demonstrieren werde, weiß ich noch nicht. Das ist wie früher im Heidelberg der 68er, als wir uns in unserer Stammkneipe getroffen und überlegten haben, ob wir zur Demo gehen sollten oder lieber doch ins Kino. Merke: Es gibt im Leben immer attraktive Alternativen, im richtigen ebenso wie im zweiten.