Die Amerikaner verstehen die ganze Aufregung um die Spionagepraxis des NSA überhaupt nicht, sagen viele hierzulande, was auf einen fundamentalen Unterschied in der Haltung der Menschen auf beiden Seiten des Atlantik in punkto Privatheit und Datenschutz schließen lässt. Die Europäer sollten sich nicht so haben, so lautete beispielsweise die (stark verkürzte) Antwort von NSA-Chef Keith Alexander vor dem Geheimdienstausschuss des US-Repräsentantenhauses. Wenn das stimmt, dann besteht die Gefahr, dass sich die Welt in zwei Lager spaltet: Hier diejenigen (die „alte“ Welt), die sich Sorgen um die ausufernde staatliche Datenschüffelei machen und diejenigen (in der „neuen“ Welt), die das völlig in Ordnung finden. Schließlich gilt es hier ja zwei sich gegenseitig ausschließende Rechtsgüter abzuwägen: Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (das in Deutschland Verfassungsrang genießt) und das Recht auf Sicherheit vor Terror, das in einem Land, das am 9. September 2001 Opfer des bislang spektakulärsten Angriffs von Extremisten in der Geschichte geworden ist, eben viel höher wiegt und auch die Aufgabe bürgerlicher Grundrechte rechtfertigt.
Aber stimmt dieses Bild überhaupt? Sind die Amerikaner tatsächlich so unbekümmert, dass ihnen die alles durchdringende Sammelwut staatlicher und privater Institutionen am Arsch vorbei geht?
Die New York Times bringen in ihrer heutigen Ausgabe einen bemerkenswerten Artikel, in dem behauptet wird, dass immer mehr einzelne Bundesstaaten von sich aus Gesetze zum Schutz der Bürger vor der ausufernden Bespitzelung durch Papa Staat erlassen haben oder solche planen. Das Blatt zitiert einen gewissen Johnathan Stickland, Abgeordneter im Parlament des erzkonservativen Bundesstaates Texas, mit diesen Worten: „Der Congress hat ganz offensichtlich kein Interesse daran, diese Dinge zu verbessern oder die Privatheit zu schützen. Wenn sie es nicht machen, dann müssen es eben die Bundesstaaten tun.“
Stickland hat in Texas aktuell ein Gesetz durchgebracht, das einen richterlichen Beschluss für das Abhören von E-Mail vorschreibt – etwas, das es in Amerika auf Bundesebene nicht gibt. Nebenan in Oklahoma wurde neulich ein Gesetz zum besseren Schutz von Studentendaten an Universitäten erlassen. Acht Bundesstaaten haben von sich aus Bestimmungen zum Einschränken der Beobachtung von Bürgern durch ferngelenkte Drohnen verabschiedet, und in Vermont wurde der Einsatz von Lesegeräten zum Erkennen von Autokennzeichen erlassen. Im besonders liberalen Bundessstaat Kalifornien haben Schulkinder heute das Recht, Posts in den Sozialen Medien löschen zu lassen, und dort ist es auch verboten, Nacktbilder anderer Menschen ohne deren Zustimmung online zu veröffentlichen. Ein geplantes Gesetz namens „Right to Know Act“, das Daten-Broker zwingen würde, den Bürgern zu sagen, welche Informationen sie über sie gespeichert haben, wurde dagegen ein Opfer der Lobbyisten des Silicon Valley, weil offenbar die Hitech-Firmen wie Google und Facebook Schaden für ihre Geschäftsmodelle befürchten.
Während also im Congress und im Weißen Haus das Thema geflissentlich ignoriert wird, herrscht auf Länderebene in Sachen Privatheit Hochbetrieb. Und das sagt eine Menge über das tatsächliche politische Klima in den USA, denn Politiker in den Einzelstaaten sind traditionell viel näher an ihren Wählern als die hohen Herren im fernen Washington. Wir dürfen also gespannt sein, wie es weitergeht und ob der Volkszorn langsam von unten nach oben hochkocht. Irgendwann, so hofft man, wird sich auch Präsident Obama nicht mehr durch Weggucken und Wegducken retten können. Angela Merkel, das wird er lernen müssen, ist nicht die einzige, die auf ihn sauer ist: Das amerikanische Volk – oder zumindest weite Teile davon – ist es offenbar auch.