Dies ist die Einleitung zu meinem neuen Buch, „Erfolgsfaktor Künstliche Intelligenz -KI in der Unternehmenspraxis: Potenziale erkennen, Entscheidungen treffen“, das im Herbst im Karl Hanser Verlag erscheint. Meinen Facebook-Freunden und Blog-Lesern gebe ich an dieser Stelle gerne eine kleine Vorschau, denn der Appetit kommt bekanntlich beim Essen.
Es ist wohl das Beste, wenn wir unseren Lesern gleich zu Beginn dieses Buchs reinen Wein einschenken: Es gibt keine Künstliche Intelligenz – jedenfalls nicht das, was wir uns so landläufig unter Intelligenz vorstellen, nämlich die Fähigkeit, seinen Verstand zum Erkennen und Beurteilen der Dinge um uns herum einzusetzen. Oder, wie Wikipedia schreibt, „aus einer inneren Beschäftigung mit Vorstellungen, Erinnerungen und Begriffen eine Erkenntnis zu formen“.
Dabei müssen wir aber zunächst einmal zwischen Erkennen und Beurteilen unterscheiden. Wahrnehmen, ja das können Maschinen und Roboter mittlerweile sehr gut, besser sogar als der Mensch dank moderner Bild- und Mustererkennung. Nur mit der Beurteilung, da hapert es. Beurteilung ist wie Intuition die Fähigkeit, aus scheinbar zusammenhanglosen Wahrnehmungen und Erkenntnissen zu neuen Einsichten zu gelangen, ohne dabei unbedingt den Verstand gebrauchen zu müssen. Intuition ist also eng mit Kreativität verwandt und hat viel mit dem Unterbewusstsein zu tun – etwas, das dem Computer notgedrungen fehlt, denn Maschinen haben kein Bewusstsein, ergo auch kein Unterbewusstsein.
Fachleute unterscheiden deshalb auch ganz klar zwischen starker KI und schwacher KI. Starke KI, auch full AI oder Artificial General Intelligence (AGI) genannt, ahmt die mentalen Fähigkeiten und Funktionen des menschlichen Gehirns nach. Sogenannte Cognitive Computer wie IBMs Watson machen das sogar sehr gut, aber sie ahmen eben nur nach – selbst Watson kann nicht denken wie ein Mensch. Er kann nur so tun, als ob.
Was wir heute kennen, und worum es in diesem Buch hauptsächlich gehen wird, ist die sogenannte schwache KI, im Englischen auch als weak AI oder narrow AI bekannt. So werden Systeme bezeichnet, die sich auf die Lösung konkreter Anwendungsprobleme mit den Methoden der Mathematik und Informatik beschränken. Sie werden speziell für eine bestimmte Anforderung entwickelt und optimiert. Meistens handelt es sich dabei um rein regelbasierte Systeme. Solche Systeme können in der Lage sein, sich selbst zu optimieren – in diesem Fall reden wir dann von „selbstlernenden Systemen“.
Es ist wichtig, diese Unterschiede zu kennen, damit man als Manager oder Unternehmer nicht in die Falle übersteigerter Erwartungen an KI gelockt wird. Anders ausgedrückt:
Erwarten Sie sich nicht zu viel von künstlich intelligenten Systemen – aber auch nicht zu wenig! Richtig verstanden und angewendet, können KI, Mustererkennung, Maschinenlernen, Deep Learning und Predictive Analysis unsere Wirtschaft, unseren Handel, unsere Fertigungsindustrie, unsere Forschung und Entwicklung und alle anderen Aspekte der täglichen Unternehmenspraxis radikal verändern.
KI als Chance
Laut dem McKinsey Global Institute, einer Spezialeinheit innerhalb der weltgrößten Unternehmensberatung, wird der Einsatz von KI allein in den Bereichen Marketing, Vertrieb und Supply Chain mehr als 2,7 Billiarden Dollar an Wertschöpfung in Form von Rendite und Effizienzgewinn verschaffen. Auf dem World Economic Forum 2018 in Davos sagte Googles CEO Sundar Pichai, KI werde für die Menschheit eine größere Rolle spielen als die Zähmung des Feuers oder der Elektrizität.
Dennoch haben die meisten Menschen heute noch Angst vor der Künstlichen Intelligenz. Sie fürchten, dass Roboter ihre Jobs wegnehmen und neue Technologien zum totalen Überwachungsstaat führen werden. Diese Ängste sind berechtigt: Wenn wir als Gesellschaft nicht aufpassen und KI in die falschen Hände fallen lassen, werden selbst die schlimmsten Albträume übertroffen werden. Die Einstiegshürden für Unternehmen, die Daten von Konsumenten und Bürger sammeln, könnten so weit steigen, dass nur noch eine kleine Handvoll mächtiger Konzerne wie GAFA (Google, Apple, Facebook und Amazon) oder Alibaba und Tencent in China übrig bleiben – Monopole, die mächtiger sein werden als jeder Staat und die die Zukunft der Menschheit nach Gutdünken lenken und bestimmen könnten.
Bislang hat sich die Diskussion über KI meist auf solche dystopischen Zukunftsszenarien konzentriert und weniger darauf, wie KI die Wirtschaft und das Leben von Millionen von Menschen transformieren und verbessern wird. Doch KI kann für Unternehmen ein echter Segen sein:
● Dank der Auswertung riesiger Datenmengen, der Anwendung komplexer mathematischer Modelle und dem Einsatz selbstlernender Systeme können KI-Forscher tief in die Zukunft blicken, zum Beispiel um Handelstrends zu erkennen oder die Verbreitung von Epidemien weltweit zu verfolgen und vorherzusagen, was nicht nur Tausende von Menschenleben retten, sondern uns vor einer Wiederholung der durch COVID-19 ausgelösten Wirtschaftskrise von 2020 schützen kann.
● Dank vorausschauender Analyse von Maschinendaten können sich Unternehmen vor Ausfällen und Stillstand in der Produktion schützen und Produktionsfehler erkennen, bevor sie auftreten – was die Vision einer „Null-Ausschuss-Fertigung“ in greifbare Nähe rücken lässt.
● KI könnte die Rettung vor der drohenden Klimakatastrophe sein. Im Zeitalter globaler Erwärmung werden Systeme zur Flutprognose wie das Delft-FEWS (Flood Early Warning System) eine Schlüsselrolle in der Reduzierung oder Vermeidung von Flutschäden spielen.
Ob in der Medizin, im Handel, in der Fertigung oder in der Verwaltung: Künstliche Intelligenz ist dabei, Unternehmen und Arbeitswelten komplett zu verändern.
Automatisierung wird immer mehr Branchen und Bereiche erfassen, in denen bislang menschliche Arbeitskraft Voraussetzung war. Dafür wird sie Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen, in denen Maschinenintelligenz an ihre Grenzen stößt. In seiner Studie The Future of Jobs Report prognostiziert das World Economic Forum, dass KI bis 2022 zwar rund 75 Millionen Arbeitsplätze vernichten, dafür aber mehr als 133 Millionen neue Jobs schaffen wird.
Spracherkennung und Sprachsteuerung, Predictive Analysis, „lernende“ Roboter, Gesichtserkennung, autonome Fahrzeuge und intelligente Wertschöpfungsprozesse schaffen neue Chancen für Unternehmen, ihre Produktivität und Konkurrenzfähigkeit auf eine ganz neue Ebene zu bringen.
KI ist die Voraussetzung, um vor allem drei Dinge zu schaffen, die für das Unternehmen von morgen entscheidend sein werden:
● Zufriedenere Kunden: Dank KI können Unternehmen ihre Kunden besser verstehen lernen. Auf der Grundlage dieses neuen Wissens um den Kunden können sie Markttrends besser vorhersagen und besser auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse jedes einzelnen Kunden eingehen. Das schafft zufriedenere Kunden – und zufriedene Kunden, das weiß jeder Manager, sind die besten Kunden.
● Intelligentere Produkte und Dienstleistungen: Gadgets und Geräte müssen heute immer „smarter“ werden, wenn sie der Kunde annehmen soll. Das gilt für die neueste Generation von Mobiltelefonen (die ja nicht umsonst „Smartphones“ heißen) genauso wie für Autos, Heizungssysteme, Küchengeräte, Fernseher oder ganze Wohnhäuser (Stichwort: Smart Home). Firmen von Apple bis Tesla nutzen längst KI, um sich Wettbewerbsvorteile bei ihren Produkten zu sichern. Und im Servicesektor sieht es keinen Deut anders aus: Alle von Spotify über Disney bis Uber verwenden Künstliche Intelligenz, um ihr Leistungsangebot noch zielgenauer auf die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Kunden auszurichten.
● Autonome Fertigung: In der industriellen Produktion bahnt sich dank KI eine Automatisierungsrevolution an. Von autonomen Drohnen bis zu selbststeuernden Lieferrobotern, von selbstlernenden Fertigungsmaschinen bis zu „Null-Fehler-Qualitätskontrolle“ erschließt KI am Band und in der Lieferkette ungeahnte Potenziale und macht „alte“ Industrien schneller, flexibler und konkurrenzfähiger.
Von den Ameisen lernen
Wir sollten an dieser Stelle kurz innehalten, um den armen Handlungsreisenden zu bedauern. Dieser steht täglich vor der Aufgabe, eine Vielzahl von Kunden zu besuchen, und er möchte dabei möglichst schnell fertig werden, denn Zeit ist Geld. Es gibt, je nach Kundenzahl, Dutzende oder Hunderte von möglichen Routen – aber welche ist die schnellste respektive die kürzeste?
Wenn unser Handlungsreisender nebenbei noch ein Computerwissenschaftler ist, kann er das Problem am einfachsten mit der sogenannten „Brute-Force-Methode“ lösen, nämlich mit roher, brutaler Rechen-Power: Er lässt einfach alle möglichen Routen nacheinander berechnen, und am Ende hat er die Beste gefunden .
Aber Rechenleistung selbst ist teuer, relativ jedenfalls, und deshalb haben andere Computerwissenschaftler den Ameisen abgeguckt, wie sie ein ähnliches Problem bei der täglichen Nahrungssuche lösen. Morgens schwärmen eine Anzahl von spezialisierten „Späher-Ameisen“ aus und suchen eine Futterstelle. Dabei hinterlassen sie eine Duftspur, die aus sogenannten Pheromonen besteht. Das sind Botenstoffe zur Informationsübertragung zwischen Individuen innerhalb einer Art. Man kann sich das auch so vorstellen wie die Brotkrumen, die Hänsel und Gretel hinterlassen haben, um nach Hause zu finden.
Die erste Spähtruppe kehrt in den heimischen Bau zurück, und zwar auf dem gleichen Weg, den sie zum Ausschwärmen genommen hat. Dadurch verstärkt sich die Pheromonspur, weil sie ja zweimal begangen worden ist. Die fleißigen Arbeitsameisen beschnuppern nun reihum alle abgehenden Spuren, aber eine ist doppelt so stark wie die anderen. Also folgen alle dieser Spur bis zur Futterstelle und räumen diese leer. Bis sie nach Hause kommen, ist der zweite Spähtrupp angekommen und hat wiederum eine stärkere Spur erzeugt, der die Arbeiter nun als Zweites folgen, und so weiter. Diese Form der Nahrungssuche ist hocheffizient, und so ganz nebenbei löst es auch das Problem des Handlungsreisenden. Jedenfalls haben chinesische Forscher einen „ameisenintelligenten“ Algorithmus entwickelt, der solche komplexen Aufgaben übernehmen kann. Es gibt dafür viele praktische Anwendungen, zum Beispiel in der Tourenplanung, in der Logistik oder im Design von Mikrochips, in der Genom-Sequenzierung und beim Umleiten von Datenpaketen in überlasteten Netzwerken. Andere Informatiker sprechen in diesem Zusammenhang von „schwarmintelligenten“ Systemen, weil bestimmte Tierarten wie eben Ameisen, aber auch Zugvögel, Fische oder Bienen im Schwarm ein kollektives Verhalten demonstrieren, das an Intelligenz erinnert.
Das kann ganz praktische Bedeutung haben. Nehmen wir an, 20 Pakete müssen ausgeliefert werden. Klingt zunächst wie eine lösbare Aufgabe, ist aber in Wirklichkeit hochkomplex. Die Zahl der möglichen Routen beläuft sich laut der Investmentbank Goldman Sachs auf etwa 15 Septillionen (Billionen Billionen). Die Integration von KI in das komplexe Netz von Produktion und Vertrieb – die Lieferkette – wird größere wirtschaftliche Auswirkungen haben als jede andere Anwendung der Technologie und eine größere Anzahl von Unternehmen betreffen, so zitiert der Economist Sudhir Jha von Infosys, einem großen indischen IT-Unternehmen. McKinsey schätzt, dass die Unternehmen durch den Einsatz der KI in Lieferketten und in der Fertigung einen wirtschaftlichen Wert zwischen 1,3 und zwei Milliarden Dollar pro Jahr erzielen werden. Viele Firmen setzen bereits Roboter ein, die durch maschinelles Lernen angetrieben werden, um den Betrieb ihrer Fabriken und Lager zu verbessern. Aber die Künstliche Intelligenz wird auch viele andere Aspekte der Lieferketten verändern.
Statt also aus Angst vor KI zu erstarren, sollten Unternehmen und Unternehmer, Manager und Führungsverantwortliche die Chancen ergreifen, die sich durch sie bieten.
In ihrer Studie Smartening up with Artificial Intelligence (AI) – What’s in it for Germany and its Industrial Sector? bezeichnen die Unternehmensberater von McKinsey KI als einen „Wachstumsmotor für die deutsche Industrie“ und sagen einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland bis 2030 von bis zu vier Prozent durch den frühen und konsequenten Einsatz von intelligenten Robotern und selbstlernenden Computern voraus. Das wären umgerechnet 160 Milliarden Euro. Und die könnten wir doch gerade jetzt ganz gut gebrauchen, oder?