Virtual Reality wartet noch auf den Durchbruch, schreibt der IT-Branchenverband BITKOM heute in einer Pressemitteilung. VR werde als das „Next Big Thing“ in der Technologie-Branche gehandelt. Jeder Sechste habe es schon mal ausprobiert, etwa bei Freunden, auf einer Messe oder in einem Museum. Aber nicht einmal acht Prozent besitzen tatsächlich so ein Ding, sei es eine VR-Brille oder ein Headset. Die Werte lägen „leicht über Niveau des Vorjahrs“, textet BITKOM hoffnungsfroh.
Vielleicht hätten sie sich mal mit meinem alten Freund Jaron Lanier unterhalten sollen. 1992 traf ich ihn, als ich mit meinem noch viel älteren Freund Ossi Urchs, mit dem er die Vorliebe für rotblonde Dreadlocks teilte, auf der CES in Las Vegas weilte, und er schwärmte nur so von VR. Das werde unsere Wahrnehmung der Realität und damit die Welt verändern, war er überzeugt.
Nun, ein Jahr später ging der gute Jaron mit seiner Firma VPL Research pleite, und seitdem ist er auf das ganze Silikon-Tal sauer und schreibt Bücher mit lustigen Titeln wie Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst oder Digital Junkies, in denen er sogar vor VR warnt! Die Manipulation der Massen durch Techkonzerne könnte mit Virtual Reality eine neue Dimension erreichen.
Wenn Sie mich fragen, ist VR eine Idee auf der Suche nach einem Geschäftsmodell. Wer schon mal länger als eine halbe Stunde einen Oculus oder einen HTC Vibe auf dem Kopf getragen hat, der weiß wie unangenehm das ist. Man kommt sich vor wie eine Maus, die in einem schwarzen Käfig gefangen ist und dringend heraus will ans Tageslicht. Gut, es mag sinnvolle Anwendungen dafür geben in der Fertigung oder im Training, aber da hat man es im wahrsten Sinn des Wortes mit einem „captive audience“ zu tun: Entweder zu ziehst das Dinge jetzt an oder wir werden uns überlegen müssen, was wir in Zukunft ohne dich machen sollen.“
Der VR-Hype ist ohnehin von dem gleichen Phänomen bedroht wie das Smartphone, nämlich Bildschirmmüdigkeit. „We have reached peak screen“, schreibt Farhad Manjoo in den New York Times, und sagt den Niedergang von iPhone & Co. voraus, weil die Menschen inzwischen visuell komplett übersättigt sind. „Tech hat so gut wie unsere ganze visuelle Kapazität inzwischen vereinnahmt“, schreibt er. Die Amerikaner würden inzwischen drei bis vier Stunden am Tag damit zubringen, auf ihre Smartphones zu starren und ungefähr elf weitere Stunden vor irgendwelchen Bildschirmen. Die Tech-Giganten, so Manjoo, würden deshalb bereits an der nächsten Revolution basteln: Eine Welt, die nicht mehr total visuell ist, sondern in der digitale Endgeräte zunehmend auf Sprache basieren: Sprachassistenten, Kopfhörer und so genannte „Wearables“ wie intelligente Armbanduhren würden unsere Augen vom Überdruck des Visuellen befreien.
Das könnte ein Albtraum sein, gibt Manjoo zu, wenn diese neuen Formen der digitalen Ansprache und Bevormundung noch zum allgegenwärtigen Bildschirm obendrauf kommen. Man müsse abwarten, wie sich die neuen Techniken entwickeln werden, ob sie weniger immersiv sein werden und weniger süchtig machen, ob sie sich als hilfreicher und sozialverträglicher entpuppen als Smartphones.
Brecht die Macht der Bildschirme, sagt Manjoo. Und VR-Brillen sind im Grunde nichts als Bildschirme hoch drei, weil sie keine Chance mehr auf Entrinnen bieten, keinen Seitenblick auf die echte Realität um uns herum.
Und so wird BITKOM wohl nächstes Jahr wieder einen Pressetext herausgeben müssen, in dem sie einen leichten Anstieg des Verkaufsniveaus vermelden werden. Oder vielleicht werden sie bis dahin begriffen haben, dass es eine Form der digitalen Zukunft gibt, die kein Mensch wirklich braucht.