Jahrzehntelang haben populäre Geschichtenerzähler und Filmmacher das Märchen verbreitet, die Mehrheit der Amerikaner habe die Prohibition nie unterstützt. Das Experiment der Abschaffung von Alkohol im ganzen Land sei von einer „radikalen Minderheit“ bibeltreuer Landeier ausgedacht wurde, die demit versuchten, ihre puritanische Moral vor allem den Großstädtern aufzuzwingen.
Aber diese Darstellung der Prohibition als eine reaktionäre, kulturell-religiöse Bewegung läßt sich im Licht der Faktenlage nicht halten. Wie hätte eine solche „ultrakonservative“ Prohibitionsbewegung ihren größten Sieg mitten in der Progressiven Ära Americas erringen können? Wie konnten Organisationen wie die Woman’s Christian Temperance Union sich neben der reaktionären Prohibition für progressive Themen wie die Ausweitung des Wahlrechts und der Bürger- und Arbeitsrechte eintreten?
Wenn es beim Sieg der Prohibition nur um eine Art christlicher Taliban ging, warum gab es dann keine gegenläufige evangelikale Erweckung zu dieser Zeit? Wenn die Prohibition nie die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit zum Ziel hatte, wie konnte dann der 18. Zusatzartikel, der die Ära der Prohibition einläutete, 1917 mit einer Mehrheit von 68 Prozent Repräsentantenhaus und mit 76 Prozent im Senat verabschiedet und dann von 46 der 48 Staaten ratifiziert werden, und das alles in Rekordzeit? Nichts davon ergibt Sinn.
In Wirklichkeit war die Abstinenz-Bewegung alles andere als die rosarote Vision der Viktorianer, um in der Gesellschaft den Alkoholkonsum zu verbieten. Die Abstinenzbewegung war die am längsten andauernde und am meisten unterstützte soziale Bewegung in der amerikanischen Geschichte, wenn nicht der Weltgeschichte. Ihr Feind war nicht das Getränk in der Flasche oder der torkelnde Trunkenbold, der seine Frau und Kinder schlug, sondern der Alkoholhandel: mächtige Geschäftsinteressen die geschützt waren durch eine Regierung, die auf Alkoholsteuern angewiesen war und die deshalb Männer (manchmal auch Frauen) süchtig machten nach Alkohol und die dann großzügig profitierten, indem sie sie und ihre Familien ausbluten ließen.
Im 19. Jahrhundert wurden Saloonbesitzer in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt als Schmarotzer angesehen. Das war nicht Ted Danson, der freundliche Barkeeper in „Cheers!“ Es gab keine Möglichkeit, einen Kunden nach Hause zu schicken, weil er zu viel getrunken hatte; das wäre entgangener Gewinn gewesen. Und da der Saloonbesitzer oft auch der Pfandleiher der Stadt war, nahm er einem Kunden, der seinen letzten Penny versoffen hatte, vielleicht auch noch Hemd, Hut und Uhr ab – wenn seine angeheuerten Taschendiebe sie nicht vorher geklaut hatten.
Das Abzocken der Kunden war meistens illegal, und die Gewinne des Saloonbesitzers flossen deshalb oft als Schmiergelder an Polizei, Richter und Bürgermeister. Popgeschichten beschreiben den Saloon als ein „Symbol“ – für Männlichkeit, für Trunkenheit, für soziale Missstände. Aber der Saloon war nicht das Symbol; er war das Problem selbst.
Deshalb hieß die mächtige Prohibitionsorganisation „Anti-Saloon League“ und nicht „Anti-Drinking Society“. Deshalb haben weder der 18. Verfassungszusatz noch die Prohibitionen auf staatlicher Ebene jemals das Trinken von Alkohol verboten, sondern sich stattdessen auf seinen Verkauf konzentriert. Es war nicht der gelegentliche Alkoholgenuss, der die Reformer auf die Palme brachte, sondern die Vorstellung, dass die Reichen reicher werden, indem sie die Armen durch die Sucht ärmer machen.
Ein Gesetzgeber forderte die Prohibition „zur Sicherheit und Erlösung des Volkes von dem sozialen, politischen und moralischen Fluch des Saloons.“ Dieser Eiferer war niemand anderer als Abraham Lincoln, der sich 1855 für die Prohibition in Illinois einsetzte. Ähnliche Gedanken wurden von Frederick Douglass, Theodore Roosevelt, Susan B. Anthony, William Jennings Bryan, William Lloyd Garrison, Elizabeth Cady Stanton und vielen anderen fortschrittlichen Persönlichkeiten geäußert.
Unsere Unfähigkeit, die Vergangenheit zu begreifen, rührt daher, dass wir sie durch die Brille unserer heutigen Weltanschauung sehen. Und die Tatsache, dass die Prohibition auf nationaler Ebene weitgehend gescheitert ist und später wieder aufgehoben wurde, bedeutet nicht, dass ihre Befürworter Spinner oder Radikale waren.
Um Mäßigung und Prohibition besser zu verstehen, vergessen Sie das bibelfeste „Du sollst nicht“-Denken und stellen Sie sich stattdessen eine riesige Industrie vor, die krakenartige eine ganze Gesellschaft festhielt und schamlos Profite macht, indem sie Menschen süchtig nach einer Substanz machte, die sie töten könnte.
Diese Industrie verwendete einen Teil dieser Gewinne, um sich korrupte politische Deckung zu erkaufen, indem sie sich die Gunst der Regierung und der Aufsichtsbehörden sicherte. Wenn wi r für „Alkohol“ einfach „Opioide“ einsetzen und die Industrie „Big Pharma“ nennen, dann wird die Parallele zu heute noch deutlicher.
Es ist die gleiche Art von Raubtierkapitalismus, den die Abstinenz- und Prohibitionsbewegung vor 100 Jahren bekämpfte. Sollten große Unternehmen in der Lage sein, die Sucht zu nutzen, um durch Ausbeutung der Armen enorme Gewinne zu machen? Wenn Ihre Antwort nein lautet und Sie vor 100 Jahren dabei gewesen wären, hätten Sie sich wahrscheinlich der großen Mehrheit der Amerikaner angeschlossen, die ein Verbot des Alkoholhandels forderten.