Schluss mit dem religiösen Artenschutz!

Nach dem Mord an dem französischen Lehrer Samuel Paty bekräftigte die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) kürzlich wieder ihre Forderung nach Abschaffung des „Gotteslästerungsparagrafen“ §166 StGB, die sie bereits nach dem „Karikaturenstreit“ 2006 sowie nach dem Attentat auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ 2015 erhoben hatte.

Der so genannte „Blasphemieparagraph“ §166 StGB gilt schon lange als rechtlich problematisch, und seine Abschaffung wird u.a. von der FDP und Teilen der SPD gefordert. Laut dieser Bestimmung macht sich strafbar, wer öffentlich oder durch das Verbreiten von Schriften eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgemeinschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

Diese Rechtstradition geht weit zurück, mindestens bis zu den alten Griechen und Römern. Die beiden vermutlich berühmtesten Strafprozesse wegen des Vorwurfs der Gottlosigkeit oder Gotteslästerung betrafen Sokrates sowie Jesus von Nazaret.

Das österreichische Strafgesetzbuch von 1769, die Theresiana, bezeichnete die Gotteslästerung als „das erste und ärgste“ Laster und regelte sie in nicht weniger als 12 Paragraphen. Je nach Schweregrad gab es Leibstrafen bis zum Abschneiden von Zunge und Hand, ferner Enthauptung und Tod durch Verbrennen, ggf. mit Verschärfungen. Begehung durch Juden und andere „lasterhafte Leute“ war ebenfalls strafschärfend.

Mit der Aufklärung und einer auf der Kant’schen Vernunftlehre aufbauenden modernen Strafgesetzgebung wurde neben der Folter zunächst auch die Blasphemie (Gotteslästerung) ersatzlos gestrichen.

Das bayerische StGB von 1813 stellte nur noch die Störung des religiösen Friedens unter Freiheitsstrafe. In der Restaurationszeit ab 1815 boten die Religionsdelikte wieder eine willkommene Hilfe zur Unterdrückung freiheitlich-demokratischen Gedankenguts.

Im Preußische Strafgesetzbuch von 1851 wurde der Blasphemieparagraf wieder eingeführt. Sein §135 bestrafte die öffentliche Gotteslästerung und die Verspottung christlicher Kirchen mit Gefängniß bis zu drei Jahren. Andere Religionsgemeinschaften waren nicht geschützt.

Das Reichsstrafgesetzbuch des Deutschen Reichs übernahm diese Strafregelungen 1871 in den §166. Der Tatbestand, der ursprünglich die „Lästerung Gottes“ betraf, wurde 1969 durch das 1. Strafrechtsreformgesetz neu gefasst. Es wurde klargestellt, dass nicht Gott an sich durch den Paragraphen geschützt werden könne. Die Neufassung wählte bewusst den „öffentlichen Frieden“ als schützenswertes Rechtsgut und nicht, wie es früher hieß, „das religiöse Empfinden des einzelnen.

Die Kritik am §166 in seiner heutigen Form betrifft vor allem den Vorwurf, dass der Staat damit das kritische Denken unterdrückt. Außerdem verweisen Kritiker auf die zunehmende Rationalisierung der Gesellschaft und das daduch bedingte Zurückdrängens glaubensgeprägter Lebensbereiche.

Kritik kommt auch von atheistischen Gruppen und Kirchenkritikern sowie von Künstlern, die sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlen.

Kurt Tucholtzky meinte zu diesem „mittelalterlichen Diktaturparagraphen“: „Ich mag mich nicht gern mit der Kirche auseinandersetzen; es hat ja keinen Sinn, mit einer Anschauungsweise zu diskutieren, die sich strafrechtlich hat schützen lassen.“

Das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen bezeichnete im Jahr 2011 „Verbote von Darstellungen mangelnden Respekts vor einer Religion oder anderen Glaubenssystemen, einschließlich Blasphemiegesetzen, als nicht mit dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte kompatibel.

Gerhard Czermak

Gerhard Czermak , ein deutscher Jurist und Kodirektor des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw), beschrieb in einem 2019 geschriebenen Aufsatz eine Zunahme kirchliche Rückzugsgefechte, die vor allem nach den 68er Unruhen in Deustchland und anderswo (Vietnam-Proteste) mit Hilfe staatlicher Organe geführt würden und die sich in Wahrheit gegen politisch oppositionelle Gruppierungen richteten und vor allem zur Abschreckung diene sollten. Auch die Phase nach der politischen Wende 1982 sei vor allem in vorwiegend katholischen Gegenden dazu genutzt worden, die zunehmende Schwäche des christlichen Glaubens zu kaschieren.

Die meisten der angezeigten Fälle enden zwar (wenn auch oft erst in zweiter Instanz) mit Freisprüchen, wie Czermak sagt. Im Zeitraum 2013-2017 seien es im Jahresdurchschnitt 74 Fälle gewesen. Trotz aller Probleme des §166 sei es in jüngster Zeit wieder zu einem teilweise alljährlichen Ritual mancher „christlicher“ Politiker geworden, bevorzugt zu Wahlzeiten, nach einer Verschärfung des § 166 zu rufen.

Interessanterweise steht laut Czermak der Straftatbestand der Friedensstörung bei solchen Vorstößen meistens nicht mehr im Vordergrund, sondern der Schutz der Glaubensinhalte und der religiösen Einrichtungen selber. Ein besonderer Schutz von Glaubensinhalten über bestehende Rechtsvorschriften (z.B. §§ 185 ff. StGB) hinaus wäre aber für ihn ein Sonderschutz für speziell religiöse Überzeugungen und daher verfassungswidrig. Für eine solche Privilegierung gäbe das Grundrecht der Meinungsfreiheit keinen Anlass. Auch erfüllten ein solches Vorgehen gegen das Gleichheitsgebot insbesondere den Straftatbestand nach des Art. 3 III GG (Anknüpfungsverbot) und stellten einen Verstoß gegen das Neutralitätsgebot dar.

„Es kann keinen religiösen Artenschutz geben, sondern die Religionen müssen sich wie alle anderen Geistesströmungen in der Gesellschaft argumentativ und praktisch behaupten“, schreibt er.

Thomas Fischer

Thomas Fischer, Bundesrichter in Karlsruhe, schrieb 2015 in der ZEIT: „Würde man den Tatbestand des Paragraphen 166 des Strafgesetzbuchs ernst nehmen, müssten ständig Prozesse wegen ‚Beschimpfung‘ der Botschaften von fünfzig Religionen oder ihrer ‚Einrichtungen und Gebräuche‘ geführt werden. Durch Streichung des Erfordernisses der „Friedensstörung“ würde das noch ausgeweitet, denn dann käme es bloß noch auf eine ganz abstrakte Gefahr an. Jeder durchreisende Muslim könnte mit Aussicht auf Erfolg Strafanzeige wegen Derwisch- oder Sadhu-Witzen erstatten.“ Außerdem seien religiöse Gruppen und Weltanschauungsgemeinschaften, genau wie alle anderen Bevölkerungsgruppen, beispielsweise durch den ‚Volksverhetzungsparagraphen‘ §130 StGB ausreichend geschützt, ohne dass es eines privilegierten „Religionsschutzes“ bedarf.“

 

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