„Technologie ist nicht das Problem, sondern ein Mittel zum Zweck“, schreibt Kevin Keith, der Direktor von GovHack, eine australische Bürgerrechtsorganisation, die jährliche „Hackathons“ organisiert, um das Konzept von Open Data zu propagieren – eine Welt, in der alle Daten für jeden frei verfügbar sind und es als Verbrechen gilt, etwas geheimzuhalten. Da das Prinzip für jeden gilt – Privatpersonen, Firmen und Regierungsstellen –, hat es ja einen gewissen Charme: In einer Welt ohne Geheimnisse kann niemand Daten dazu benützen, andere zu schädigen oder auszubeuten. Das ist eine Lieblingsidee von Libertären, die aber wohl kaum Chancen auf Verwirklichung hat – da werden die Damen und Herren der Geheimdienste noch ein Wörtchen mitzureden haben.
Schade, also müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen müssen. Aber wenn Technologie uns die ganzen in diesem Buch beschriebenen Probleme überhaupt erst eingebrockt hat, warum kann sie uns nicht helfen, sie zu lösen? Darum soll es in diesem Kapitel gehen.
Das Internet wurde auf Idealismus aufgebaut. John Perry Barlow, der im Februar 2018 verstorbene Internet-Pionier und Songtexter der Heavy Metal-Rockband Grateful Dead, beschrieb es in seiner Unabhängigserklärung des Cyberraums als ein „commons“, eine Art digitaler Allmende. So nannte man früher Weiden und Äcker, die alle Bauern gemeinsam nutzen durften. Heute beschreibt der Begriff Wissensallmende gemeinsam genutzte, immaterielle Ressourcen wie freie Software (zum Beispiel das Computer-Betriebssystem Linux) oder freies Wissen (wie die bei Wikipedia zusammengefasste kollektive Intelligenz der Netz-Nutzer).
In einem solchen geteilten Internet, dass allen gehört, sind Dinge wie Solidarität und Sozietät mindestens genauso wichtig wie Konnektivität. Robert Metcalf, einer der Erfinder von Ethernet und Begründer von 3COM, beschrieb 1980 das, was er als den Netzwerk-Effekt bezeichnete, nämlich dass der Nutzen eines Netzwerks im Quadrat zur Teilnehmerzahl wächst. Ähnliche hatte schon Theodore Vail argumentiert, der Chef von Bell Telephone, der damit 1908 argumentiert hat, als er einen Deal mit der US-Regierung aushandelte, die seiner Firma das Monopol für das Fernvermittlungsgeschäft im stark zersplitterten amerikanischen Telefonmarkt gab. „Je mehr Leute mitmachen, desto mehr haben alle davon“, war sein Credo.
Die Aufbruchstimmung, die Barlow und seine Kollegen zu Beginn des Internet-Zeitalters antrieb, spiegelt sich wider im Namen der Organisation, den sie sich gaben: Electronic Frontier Foundation. Wie die frühen Siedler, die aufbrachen, den Wilden Westen zu erobern, waren sie überzeugt davon, dass sie die Grenzen einer alten Welt überwinden und eine neue jenseits der Grenzen von Zeit und Raum schaffen würden, in der es gleiches Recht und gleiche Chancen für alle („a level playing field“) geben und Information für jedermann frei sein würde.
Nun, es kam bekanntlich anders. Eine Handvoll gigantischer Internet-Konzerne – GAFA genannt – kontrolliert mehr oder weniger unverfroren, was wir zu sehen bekommen und was nicht. Sie heimsen sich im Gegenzug unsere persönlichen Daten ein, als ob es ihr gottgegebenes Recht wäre. Big Data, das Erdöl des 21. Jahrhunderts, das eigentlich Anbietern erlaubt, besser als je zuvor auf die Wünsche und Bedürfnisse von Kunden einzugehen, ist zur größten Überwachungsmaschine der Geschichte mutiert, ein digitales Panoptikum. Die Anonymität des Netzes, von Barlow und Konsorten als eine der größten Errungenschaften des Internet gefeiert, hat zur Degeneration der Streitkultur, zu Cyber-Mobbing und Trollen geführt. Der freie Austausch von Ideen hat den Widerstand der sogenannten Kreativen geweckt, der Autoren, Drehbuchschreiber und Filmemacher, die sich in ihrer Existenz bedroht fühlen und den Wertverlust der Kunst und des Künstlers beklagen (als ob das Plagiat das Ergebnis oder gar die Erfindung des Internet-Zeitalters wäre). Und die Online-Plattformen, die uns eigentlich zusammenführen sollten, werden heute für politische Ziele missbraucht, sei es von Neonazis oder von autoritären Staaten wie Russland und China.
Das Internet ist veraltet
Um das zu verstehen, muss man wissen, dass das Internet auf einer Reihe von Uralt-Technologien aufbaut. Vinton Cerf, der zusammen mit seinem Studienfreund Bob Kahn das TCP/IP-Protokoll 1973 erfand, ist heute als Elder Statesman bei Google beschäftigt, und er hat es einmal in einem Interview mit dem Autor dieses Buchs so beschrieben: „Wir haben uns nichts dabei gedacht als: Wie kriegen wir diese verflixten Datenpakete von einem Punkt zum anderen?“ An Dinge wie Sicherheit, Verifizierung, Nachhaltigkeit oder Vertrauen haben sie als junge Ingenieurstudenten keine Sekunde lang gedacht. Außerdem, so Cerf, würden die Vorteile von TCP/IP ja die Nachteile bis heute bei Weitem überwiegen.
Warum glauben also viele, dass das Internet kaputt ist und dringend einer Reparatur bedarf? Solche Kritik macht sich meistens an der grundlegenden Struktur des Netzes fest, die bis heute nach dem klassische Client-Server-Prinzip funktioniert. Sie geht auf die Frühtage des Computers zurück, wo alle Informationen in einem Zentralrechner (Server) gespeichert wurden und Benutzer sich über Terminals (Clients) dort einwählen mussten. Diese zentralistische Struktur gibt dem Besitzer oder Betreiber des Servers große Macht, aber eine Zeitlang sah es in den 1980er- und 1990er-Jahren ja so aus, als würde sich die Computerei davon lösen und dezentralisieren und damit auch demokratisieren: Wer einen Personal Computer besaß, hatte im Prinzip die Hoheit über seine Daten und Anwendungen. So gesehen ist TCP/IP ein Rückschritt, denn es hat zu riesigen Datensilos geführt, die nur über sogenannte Portale erreichbar sein – und die werden von Firmen wie Google, Amazon, Facebook und Apple bewacht und kontrolliert.
„Der Begriff Portal sagt schon alles“, behauptet Dirk Trossen, Chefwissenschaftler bei InterDigital, einer Internet-Beratungsfirma mit Sitz in London. „Es beschreibt eine Tür, an die wir klopfen und um Einlass bitten müssen. Hinter der Tür wartet dann eine riesige Bibliothek, wo wir uns bedienen können, aber nur, wenn der Bibliotheksbesitzer es uns erlaubt.“ Für ihn ist Client-Server heute eher ein Auslaufmodell. „Informationen wohnen zunehmend an der Peripherie des Netzes, also in den Außenbezirken. Unmengen an Informationen sind auf Smartphones oder PCs gespeichert. Deshalb sei die Vorstellung, dass wir uns irgendwohin begeben müssten, um Informationen abzuholen, völlig veraltet.
Kann Piraten-Software das Web vor sich selbst retten?
Dirk Trossen ist Teil einer weltweiten Initiative von Entwicklern und Computerwissenschaftlern, die am Projekt eines „informationszentrischen“ Netzwerks (ICN) arbeiten – ein Internet, das tatsächlich die Grenzen von Zeit und Raum überwindet, so wie es sich die Pioniere des Internets einmal vorgestellt haben. Anstelle von URLs – Uniform Resource Locators – wollen sie URIs etablieren: Uniform Resource Identifiers. Man stelle sich das vor wie ein Etikett, das an jedem Stück Information klebt und sagt, worum es sich handelt. Damit der User an eine bestimmte Information gelangen kann, zum Beispiel einen Text, ein Bild oder ein Video, genügt es, eine Suchanfrage loszuschicken. Das Netzwerk selbst findet dann heraus, wo etwas zu finden ist: vielleicht auf einem PC am anderen Ende der Welt oder auf dem Smartphone des Sitznachbarn in der Straßenbahn.
Großer Vorteil eines solchen dezentralen Internets wäre seine Geschwindigkeit: ICN arbeitet mit einer Technologie, die gerne auch von Videopiraten verwendet wird, nämlich BitTorrent. Das ist im Grunde nichts anderes als ein kollaboratives Filesharing-Protokoll, das sich besonders für die schnelle Verteilung großer Datenmengen eignet. Im Gegensatz zu anderen Austausch-Techniken setzt BitTorrent aber nicht auf ein übergreifendes Filesharing-Netzwerk auf, sondern schafft ein separates Verteilnetz für jede einzelne Datei. Eine solche Datei kann gleichzeitig an Hunderten oder Tausenden von Orten vorhanden sein, nämlich auf dem Laufwerk oder Smartphone von Leuten, die es früher schon einmal heruntergeladen haben.
Die BitTorrent-Technologie kann sich Fragmente der Datei gleichzeitig von verschiedenen Quellen holen, was die Latenzzeit (die Zeit, die notwendig ist, um eine Dateneinheit komplett zu übertragen) drastisch verkürzen kann. So wäre es zum Beispiel möglich, eine einzige Kopie eines Videos auf YouTube oder Netflix gleichzeitig, aber leicht zeitversetzt, an mehrere User zu übermitteln, was im Übrigen auch die Übertragungskosten verringern würde.
ICN würde, so Trossen, auch das vielleicht größte Problem des Internet lösen, nämlich das Fehlen von Vertrauen. Da die Datenpakete mithilfe ihrer URIs eindeutig identifizierbar sind, ist jederzeit nachvollziehbar, wer was wohin übertragen hat. Mit einem Schlag verschwinden also Dinge wie Piraterie, Phishing oder Fake News, die in der Regel auf dem weitverbreiteten Gaunertrick des IP-Spoofing basieren: Der Angreifer gibt sich als vertrauenswürdiger Host aus und kann so seine Identität verschleiern, eine Webseite fälschen, einen Browser unter seine Kontrolle bringen oder in ein fremdes Netzwerk eindringen. Im Prinzip geht es darum, einen unbedarften User dazu zu bringen, sich mit einem anderen Server zu verbinden als der, den er eigentlich erreichen wollte. In einem ICN-Netzwerk ist der Server irrelevant, weil die Information selbst eindeutig identifizierbar ist. Wer berechtigt ist, auf die Information zuzugreifen, und welche Gegenleistung dafür erwartet wird, kann auf dem digitalen Etikett, dem URI, gleich mit dazu vermerkt werden.
Dort, wo sich im Netzwerk Leitungsbahnen kreuzen, entstehen Knoten, im Englischen Nodes genannt. Treffen besonders viele Bahnen aufeinander, spricht man von einem Supernode. Das beste Beispiel dafür ist wahrscheinlich Facebook mit seinen mehr als zwei Milliarden Nutzern, was ungefähr zwei Drittel der gesamten Online-Weltbevölkerung entspricht. Diese zwei Milliarden User generieren pausenlos Unmengen von Daten, die Facebook sehr erfolgreich monetarisiert, was ihnen 2018 ungefähr neun Milliarden Dollar Umsatz pro Quartal (!) einbrachte.
Einer, der sich auf Supernodes eingeschossen hat, ist Aral Balkan, Aktivist, Designer und Entwickler von Ind.ie, einem kleinen sozialen Unternehmen mit Sitz in Malmö, Schweden, das sich für die soziale Gerechtigkeit im digitalen Zeitalter einsetzt.
Balkan hat unter anderem eine Software-App namens Better Blocker entwickelt, das die Privatsphäre von Benutzern des Web-Browsers Safari von Apple schützt. Online-Werber setzen heute eine Vielzahl von Werkzeugen ein, um das Surfverhalten, die Kaufgewohnheiten und Positionsdaten – das so genannte Geotracking via Smartphone – auszuforschen. Besonders beliebt bei Werbern sind Web Bugs, auch „Zählpixel“ genannt – unsichtbare Bildpunkte auf einer Website oder in einer E-Mail, die unter anderem die IP-Adresse des Users, die Adresse der besuchten Webseite, Zeitpunkt und Browsertyp und andere Informationen an den Server des Werbers zurücksendet – selbst dann, wenn der Benutzer auf der Seite gar nichts angeklickt hat! Diese Informationen über den User werden bestenfalls genutzt, um ihm zum Beispiel nur noch die Werbung anzuzeigen, die am besten auf seine Surfgewohnheiten zugeschnitten ist. Schlimmstenfalls können sie als Angriffstor für Hacker dienen.
Balkans Ziel ist es, die Macht der Supernodes zu brechen, indem er jedem Internet-User seinen eigenen Node gibt – sein eigenes kleines Stück vom Internet, in dem er seine öffentlichen und privaten Daten kontrolliert und selbst entscheidet, wer sie haben darf und wer nicht. Ein solches System wäre komplett dezentral, sodass man nicht mehr über einen Supernode gehen muss, um beispielsweise einem Freund ein Foto zuschicken; da sich alle User-Nodes untereinander kennen, kann die Übertragung direkt geschehen.
Eingebaute Ethik
Grundlage seiner Vision eines dezentralen Internet ist etwas, dass Aral Balkan Ethical Design nennt. Für ihn ist das eine Technologie, die die Menschenrechte des Users respektiert, beispielsweise indem es seine Bürgerrechte wie informationelle Selbstbestimmung oder das Recht auf Datenlöschung respektiert. Ethisches Design sollte seiner Meinung nach ein positives Erlebnis vermitteln, indem es intuitiv und unaufdringlich funktioniert. „Technologie sollte im Hintergrund aktiv sein und uns Freude bereiten. Es sollte uns ermächtigen. Es sollte uns ein Lächeln ins Gesicht zaubern und unser Leben besser machen.“
Balkan ist beileibe nicht der einzige, der an einem besseren, weil dezentralen Internet arbeitet. Tim Berners-Lee, der Vater des World Wide Web, hat am M.I.T. in Boston eine Initiative gestartet, die er Solid nennt, eine Abkürzung für social linked data. Sein Ziel ist es, ein System von Konventionen und Werkzeugen zu entwickeln, die dezentralisierte soziale Anwendungen auf der Grundlage vernetzter Daten bereitstellen. Solid verwendet wie ICM Uniform Resource Identifiers (URI), also Links, die direkt zu einer bestimmten Information führen. Mit im Dezentralisierungs-Rennen sind beispielsweise die Mozilla Foundation, die einen mit zwei Millionen Dollar dotierten Ideenwettbewerb gestiftet hat, oder die Firma NameCoin, die auf Grundlage der Blockchain-Technologie direkte und vertrauenswürdige Verbindungen zwischen Informationen und Usern herstellen soll. Mithilfe des Online-Ausweises Namecoin Identities kann ein Anwender im Internet beweisen, dass er wirklich derjenige ist, der er zu sein vorgibt. Die New Yorker Firma Monegraph benützt heute schon Namecoin, um Twitter-Konten mit digitalen Wertgegenständen zu verlinken. Ein Künstler kann dort ein von ihm geschaffenes Werk – ein Text, ein Bild, ein Film – hochladen und vermarkten, wobei genau zurückverfolgt werden kann, wer es erworben und was er damit getan hat – beispielsweise an Freunde ausleihen oder weiterverkaufen.